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Kritik von allen Seiten

Im September wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Und anders als in Österreich war der Umgang mit Flüchtlingen im deutschen Wahlkampf bisher kein großes Thema. Das hat der Spitzenkandidat der SPD, Martin Schulz, nun geändert. Dass seine Kritik an der Union und Kanzlerin Angela Merkel allerdings die Sozialdemokraten aus dem Umfragetief holen kann, wird bezweifelt.

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Die Lage sei angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, „hochbrisant“, sagte der SPD-Chef der „Bild am Sonntag“. „Wer auf Zeit spielt und versucht, das Thema bis zur Bundestagswahl zu ignorieren, verhält sich zynisch.“

Kritik an Merkel

Schulz griff auch Merkel direkt für ihre Politik an - schwächte seinen Vorwurf aber gleichzeitig ab: Die Kanzlerin habe im Herbst 2015 die Grenzen zu Österreich „ohne Absprache mit unseren Partnern in Europa“ geöffnet. Das sei aus „gut gemeinten humanitären Gründen“ geschehen. „Das war richtig so, weil die Leute gerettet werden mussten“, unterstrich Schulz in mehreren TV-Interviews. Allerdings: Merkel habe seinerzeit „aber die Leute im Stich gelassen, die in Deutschland die Integration leisten müssen“. Im Jahr 2015 sei „ein Chaos entstanden, weil man nicht rechtzeitig gehandelt hat“. Das wolle er vermeiden.

SPD damals mit Politik einverstanden

Kommentatoren wie auch die politische Konkurrenz wiesen darauf hin, dass die SPD als Koalitionspartner die Flüchtlingspolitik Merkels mitgetragen und befürwortet hatte. Die Sozialdemokraten hätten damals wie heute den Außenminister gestellt. Und auch bei Integrationsmaßnahmen hätte man als Regierungspartei durchaus tätig werden können.

Auch die Erfolgsaussichten von Schulz’ Vorstoß werden in den deutschen Medien wenig rosig gesehen. Schulz und die SPD stürzten nach einem kurzen Umfragehoch bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur schnell ab - schon seit Monaten kommen die Sozialdemokraten kaum über die 25 Prozent in Umfragen hinaus.

Auf „alten“ Zug aufgesprungen?

„Ich kann die Idee der SPD, das Flüchtlingsthema aktiv zum Wahlkampfthema zu machen, nicht so richtig nachvollziehen“, sagte Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen der Nachrichtenagentur Reuters. „Das ist nicht unbedingt das Bringer-Thema für die Kanzlerin – aber es ist auch nicht so, dass man sie damit vernichtend schlagen kann.“ Zuletzt hätten ihr 50 Prozent der Befragten bescheinigt, sie mache ihre Sache in der Flüchtlingspolitik eher gut. Die Kritik an Merkel hatte 2015 und 2016 einige Wellen geschlagen. Sich jetzt auf diesen Zug aufzusetzen könnte zu spät sein.

CDU und CSU vorerst weiter einig

Einziger möglicher „Erfolg“, das Flüchtlingsthema auf Tapet zu bringen, sei, neue Irritationen zwischen CDU und CSU anzuheizen, meinen einige Kommentatoren. Die Schwesterparteien waren sich bei der Frage der Flüchtlinge lange in den Haaren gelegen, die CSU fordert nach wie vor eine „Obergrenze“ für Einwanderer. Zuletzt hatten sich CDU und CSU - wohl auch angesichts der guten Umfragewerte - in trauter Einigkeit präsentiert.

CSU mit heftiger Kritik

Von der CSU kam auch die schärfste Replik auf Schulz’ neue Vorstöße: „Da redet einer von einem neuen Flüchtlingsstrom, der selbst alle Maßnahmen zur Begrenzung abgelehnt und bekämpft hat“, sagte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer der „Passauer Neuen Presse“ (Montag-Ausgabe). „Mehr Abschiebungen, mehr sichere Herkunftsstaaten, Grenzkontrollen und Transitzonen - das alles haben SPD und Martin Schulz vehement blockiert.“

Anders als Schulz sieht der CSU-Europaabgeordneter Markus Ferber derzeit keine drohende Flüchtlingskrise. Wenn man die Zahlen anschaue und mit denen von 2015 vergleiche, seien die 100.000 Flüchtlinge, die zurzeit in Italien seien, noch beherrschbar, sagte er im Bayerischen Rundfunk.

„Verwunderung“ und „Wahlkampftaktik“

Der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach verwies auf die Bedeutung der Bekämpfung von Fluchtursachen. „Mich wundert sehr, dass all dies Herrn Schulz bislang verborgen geblieben ist.“

Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Stephan Mayer, sieht in der Warnung von Schulz vor einer neuen Flüchtlingswelle vor allem Wahlkampftaktik. Es sei „hoch bemerkenswert, dass nunmehr der SPD-Kanzlerkandidat die Migrationskrise als Thema entdeckt“ habe, sagte Mayer. Ein Sprecher des deutschen Innenministers Thomas de Maiziere (CDU) sagte, Schulz mahne Dinge an, die seit vielen Monaten Gegenstand intensiver Regierungsarbeit seien.

Kritik auch von FDP, Grünen und Linken

Auch FDP-Chef Christian Lindner kritisiert das „Wahlkampfmanöver“: „Die SPD sucht nach Themen“, sagte er den Dortmunder „Ruhr Nachrichten“. Mit Blick darauf, dass die SPD die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel in der Großen Koalition mitgetragen habe, bezeichnete Lindner Schulz’ Vorstoß als „überraschend und wenig glaubwürdig“.

Die Grünen-Spitzenkandidatin Kathrin Göring-Eckardt sagte, die Große Koalition habe seit der Flüchtlingskrise von 2015 zwei Jahre Zeit gehabt, die damaligen Fehler zu korrigieren. „Weder Herr Schulz noch Frau Merkel haben solche Konzepte“, sagte Göring-Eckardt.

Linken-Chef Bernd Riexinger sagte in Berlin, der frühere EU-Parlamentspräsident Schulz habe zur Durchsetzung europäischer Lösungen zur Aufnahme von Geflüchteten nichts beigetragen. „Denn Italien und Griechenland werden nicht erst in diesem Jahr mit der Betreuung der Geflüchteten allein gelassen.“

Der AfD in die Hände gespielt?

Einigermaßen erfreut zeigt sich die rechtspopulistische AfD. Schulz habe „ausnahmsweise mal recht“, sagte AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland. Es handle sich aber um „unglaubwürdige Lippenbekenntnisse“. Gleichzeitig sei sein Vorstoß aber ein „verzweifelter Versuch“. „Waren es doch seine Genossen in Parlament und Regierung, die die katastrophale Situation in Deutschland und Europa mit herbeigeführt haben.“ Daher sei der Vorstoß auch nicht glaubwürdig.

Eine größere Aufmerksamkeit für die Flüchtlingsfrage könnte nach Ansicht des Demoskopen Jung vor allem der AfD nutzen. „Das ist durchaus plausibel“, sagte Jung. „Die AfD hat in der Vergangenheit sehr sichtbar von der Flüchtlingsfrage profitiert.“ Dass die Umfragewerte zuletzt gesunken sind, hänge aber auch damit zusammen, „dass die Dynamik aus der Flüchtlingsproblematik raus ist“.

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