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TV, Web und das Kollektiverlebnis

In Medienhäusern liebt man bekanntlich den Glauben an die Infoorientierung des eigenen Publikums. Dieser Glaube hat über Jahre hinweg die Konzeptionen von Onlineauftritten gerade im deutschsprachigen Raum geprägt. Entweder war man ernst und „Info“ - oder man hatte ohnedies ganz andere Plattformen erdacht, die sich - gefühlt - weit entfernt vom Seriösen abspielten. So der Irrglaube.

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Erst der Aufstieg von Social Media brachte bei manchem Saurier die Erkenntnis, dass man doch auf mehr als nur die klassische Infoschiene zu setzen hat, war das Publikum doch längst woanders. ORF.at hatte in seiner Geschichte auch einen Grundsatz: bei allen Events, die so etwas wie Kollektiverfahrungen prägen, dabei zu sein. Und das bedeutet eine Orientierung über den klassischen Informationsbereich hinaus.

Ohne crossmediale Anstrengungen, altmodisch und gesetzeskonform darf man diese auch als „sendebegleitend“ beschreiben, wären zahlreiche Innovationen des Produkts - auch in der Entwicklung der Internetarchitektur - kaum möglich gewesen. Kristallisationspunkt für die Weiterentwicklung der Crossmedia-Formate war sicher die Konzeption von „Taxi Orange“ im Jahr 2000.

Vom „Shitstorm“ zur E-Rose in Montreux

Ab Mitte September 2000 fuhren zwei orange Taxis, die man ausschließlich online bestellen konnte, durch Wien. 13 Kandidaten verbrachten elf Wochen in einem Haus im 13. Wiener Gemeindebezirk, dem Kutscherhof. Das Publikum konnte das Leben der sechs Frauen und sieben Männer nicht nur jeden Abend montags bis samstags in ORF eins beobachten, sondern rund um die Uhr per Livestream, Web-Berichterstattung und Taxipositionskarte in taxiorange.ORF.at.

Ein prämierter Auftritt

Für den Auftritt von „Taxi Orange“ gab es nicht nur eine Romy, sondern in Montreux, bei der Goldenen Rose, auch eine E-Rose für ORF.at.

Transparente Information und starke Publikumsbeteiligung veränderten gleich zu Beginn die Sendung. Ursprünglich wollte der ORF aus pragmatischen Gründen die Betriebszeiten der Taxis gering halten. Dank eingebauter GPS-Empfänger und der Übertragung der Taxipositionen auf eine Onlinekarte wurde in den ersten Tagen klar, dass die Zahl der Fahrten nicht für den Lebensunterhalt der Kandidaten reichen würde. Das Publikum ließ sich das nicht gefallen. Anhand von Bildern und Daten wurde in taxiorange.ORF.at gerechnet, diskutiert und gefordert. Damit musste sich der ORF lange vor der Existenz von Facebook und Twitter mit dem Phänomen „Shitstorm“ auseinandersetzen. Und reagierte schnell: mit einer starken Ausweitung des Taxidienstplans.

Darf denn das der ORF?

1999 lancierte Endemol in den Niederlanden „Big Brother“. Die ab Februar 2000 in Deutschland ausgestrahlte Version fand entgegen allen Voraussagen auch in Österreich ein großes Publikum. Der ORF entwickelte ein eigenes Konzept. Dass die Kandidaten statt in einem Container in einem Haus wohnen sollten, selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen mussten und alles im Web transparent begleitet wurde, machten den Unterschied. Nach heftigen internen Diskussionen fiel die Entscheidung für die Umsetzung.

Taxi Orange Screen

ORF.at

Sogar Harald Schmidt klinkte sich bei „TXO“ ein: „Fahrt doch mit dem Taxi nach Köln!“

Der große Erfolg beim Publikum gab im Nachhinein dem ORF recht. 4,8 Millionen Zuseherinnen und Zuseher hatten zumindest eine Folge gesehen. Überall in Österreich wurde in Schulhöfen und Büros über „Taxi Orange“ diskutiert. 63 Prozent der österreichischen Bevölkerung ab 14 Jahren war nicht nur das Fernsehformat, sondern auch die Website ein Begriff. Von den Jugendlichen im Alter von 14 bis 24 Jahren, die über einen Internetzugang verfügen, nutzten 44 Prozent das Onlineangebot.

Ausblick auf Social Media

Taxiorange.ORF.at war in vieler Hinsicht Avantgarde. Der Kutscherhof wurde mit mehreren Kameras, die mit Ausnahme kurzer Auszeiten durchgehend ins Internet sendeten, ausgestattet. Die Taxis wurden mit Webcams und den bereits erwähnten GPS-Empfängern ausgerüstet, per Handy mit dem Netz verbunden und waren permanent auf einer Karte verfolgbar. In Foren, Abstimmungen, auf Visitenkarten mit Freundeslisten und Miniblogs und in Chaträumen entfaltete sich ein neues Niveau von Publikumsbeteiligung. 45 Millionen Seitenabrufen in elf Wochen stand ein Vielfaches an Postings und Votings gegenüber.

Staunen über die Zahl an Videoabrufen

Bei der Eurovision, die gerade erstmals den Song Contest europaweit gestreamt hatte, staunte man über die Zahl der Videoabrufe. Die Bilder waren allerdings bei beiden Formaten im Vergleich zu heute noch sehr klein. Smartphones spielten 2000 gar keine Rolle, außer dass mobile Telefonverbindungen die Übertragung von Bildern und GPS-Daten ins Web ermöglichten. 2001 erhielt Formatentwickler Mischa Zickler den österreichischen Fernsehpreis Romy. Das Team von ORF.at wurde bei der Rose d’Or in Montreux mit der erstmals vergebenen E-Rose für das beste Unterhaltungsformat im Internet ausgezeichnet.

Song Contest kommt nach Österreich

15 Jahre nach „Taxi Orange“ gab es dann einen weiteren wegweisenden und über Wochen und Monate laufenden vernetzten Crossmedia-Einsatz: Conchita Wurst hatte mit dem Sieg in Kopenhagen den Song Contest nach Österreich geholt.

Screenshot

ORF.at

Bandbreiten hatten sich seit 2000 geändert, das Smartphone spielte mittlerweile nicht nur als Distributions-, sondern auch als Produktionsmittel eine Rolle. Manches erinnerte an die Ur-Utopie des World Wide Web: Alle konnten und sollten Redakteure sein. Der Song Contest verlangte nach Plattformen, auf denen unterschiedliche Publikumsschichten zusammenfinden und sich vernetzen können.

Die Verfügbarkeit aller Materialformen, vom simplen Bild bis zum 360-Grad-Video, war nicht das Thema. Infrage stand: In welchem Moment ergibt in einem trimedialen Medienhaus welcher Kanal am ehesten Sinn? Und wie reagiert man im Web auf ein TV-Liveereignis, das mehr als das oft beschworene Lagerfeuer ist?

Was ist wo live und on Demand?

Live ist live ist live: Dieser Erkenntnis sollte sich der geneigte Onliner stellen, wenn er es mit der Übermacht eines TV-Liveereignisses zu tun hat und er die ideale Verbindung zwischen TV und Online stiften soll. Ein weltweites TV-Ereignis - live - ist und bleibt ein Ereignis, das kein anderes Medium kontern, sehr wohl aber spiegeln und reflektieren kann. ORF.at reagierte auf die Finalrunden und das große Finale in Wien mit einem neuen Liveticker, der so etwas wie die Amplitude aller Gefühle zum TV-Event sein wollte.

Screenshot

ORF.at

Einerseits spielte man das Liveevent über den Liveticker für Desktop und Mobilgeräte aus. Andererseits galt es, mit einem breiten Redaktionsteam alle Reaktionen auf das Event zu sammeln - und gleichzeitig für den Remix des Erlebten und die Verfügbarmachung im Minutenabstand zu sorgen.

Remix und Kollektivspeicher

Remix ist die Antwort des Web auf die Live-Wucht des Fernsehens: für den gerade in Medienhäusern so geliebten „Second Screen“, der Anker und Zusatzstimulierung zum TV-Event sein sollte. Die Stunde des Livetickers schlug aber gerade in seiner Remix-Form ab dem Moment, wo das Event entschieden war - und ein Bedürfnis einsetzte: das der kollektiven Erinnerung. Songcontest.ORF.at hatte zwei Tage nach Ende des Events den Peak an Zugriffen - und auch den höchsten Verbreitungsgrad über Soziale Netzwerke. Man wollte sich an viele kleine Momente, Bruchstücke des eigenen Bildspeichers, erinnern.

Crossmedia wird einer der entscheidenden Plätze für die Aufstellung des ORF in der Zukunft sein. Viele Menschen sind nicht per se informationsorientiert. Aber sie sind partizipationswillig. Und Großevents werden immer noch die Sehnsucht nach kollektiver Dramaturgie entfachen - und nach intelligenten wie effizienten Partnerschaften zwischen - angeblich - alten und neuen Medien verlangen.

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