Bedrohte Bildung
Wenn die 14-jährige Atho über die High School spricht, wird sie sichtlich nervös. Nicht wegen des Unterrichts - sondern wegen der Angst, sie nicht mehr besuchen zu können. Es handelt sich um eine begründete Furcht. Die Dürre im Norden und Versagen im Bildungswesen hindern Hunderttausende Kinder daran, in die Schule zu gehen.
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„Viele Eltern haben Schulden. Wir müssen die Kinder mit Mahnungen heimschicken. Wenn sie nicht zahlen, fehlt uns das Geld. Wir sind auf das wenige angewiesen, das wir von den Eltern bekommen“, erzählen drei Lehrerinnen an einer privaten Vorschule im Ort North Horr im Bezirk Marsabit, während die Kinder im Schulhof toben. 300 kenianische Schilling oder 2,50 Euro für drei Monate kostet die Schulgebühr, dafür bekommen die Kinder sowohl Nahrung für den Geist als auch für den Körper: Einmal am Tag gibt es Porridge, einmal Reis.

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Die drei Lehrerinnen in der Vorschule unterrichten gemeinsam mit einem Kollegen 127 Kinder
Doch im Norden Kenias herrscht derzeit bittere Not, angesichts der auch 2,50 Euro oft zu viel sind. In Marsabit lebt der Großteil der Menschen als mobile Viehzüchter. Weil seit fast zwei Jahren kein Regen mehr gefallen ist, sind 70 bis 80 Prozent ihres Viehs verendet. Damit haben die Menschen keine Existenzgrundlage mehr, sie sind auf Nothilfe angewiesen, die vor allem von Hilfsorganisationen kommt. Allein 175.000 Volkschulkinder können in ganz Kenia wegen der Dürre nicht mehr in die Schule gehen.
„Ärztinnen, Lehrerinnen, Pilotinnen“ erwünscht
Ähnlich wie in North Horr sieht es auf der Kalacha Nomadic Girl School aus, jener Schule, die auch Atho besucht. Seit der Dürre mussten 200 von fast 700 Mädchen die Schule verlassen. Sora Duba, den Direktor der Schule, trifft das sichtlich. Wenn er von der Schule spricht, sprüht er vor Enthusiasmus. Ihm gehe es nicht nur um Bildung, sondern auch um Emanzipation: „Wir arbeiten dafür, dass die Mädchen selbstbestimmt sind und anerkannt werden. Sie sollen lernen, studieren und als Lehrerinnen, Pilotinnen und Ärztinnen wiederkommen“.

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Die Kalacha Nomadic Girls School wurde vor allem von einem anonymen japanischen Spender finanziert
Doch derzeit werden viele Kinder von den Schulen genommen, weil die Familien, die oft sehr groß sind, sich die Gebühren nicht mehr leisten können oder es in der Schule kein Essen mehr gibt. Dabei ist die Bildungssituation in abgelegenen Gegenden wie Marsabit County ohnehin besonders heikel. Da die Menschen in der Regel mit ihrem Vieh von Ort zu Ort ziehen und es zu wenige öffentliche Schulen gibt, sind private Internate oft die einzige Möglichkeit, wie Nomadenkinder in die Schule gehen können. Oft verbringen sie dann große Teile ihrer Kindheit in den Einrichtungen.
Religion für die Moral, Turnen für die Stärke
Die Schule in Kalacha ist eine Grundschule, in der derzeit 496 Schülerinnen aller Konfessionen im Alter von sechs bis 14 Jahren unterrichtet werden. Der Lehrkörper besteht aus zwölf Personen, die Hälfte davon sind Frauen. Die Mädchen, die eine lokale Sprache sprechen, lernen dort Kenias Amtssprachen Kisuaheli und Englisch, außerdem stehen Mathematik und Natur- und Sozialwissenschaften auf dem Lehrplan.

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Schülerinnen der höheren Klassen während des Physikunterrichts
Der Religionsunterricht soll sie „moralisch aufrecht“ und zu „guten Bräuten und Müttern“ machen, der Turnunterricht mit Fuß- und Volleyball physisch stärken, erzählt Direktor Duba. „Wir bringen ihnen aber auch bei, wie man Bäume pflanzt, Tiere hütet und Lebensmittel konserviert. Es geht darum, dass die Mädchen Wissen aufnehmen und an ihre Dörfer weitergeben.“ Bildung soll als langfristige Strategie dienen, um die Menschen gegen Krisen wie die aktuelle Dürre zu wappnen.
Kenias Schulsystem
Das kenianische Schulsystem funktioniert nach dem 8-4-4-Prinzip: Mit sechs Jahren startet für die Kinder eine achtjährige Grundschulausbildung, dann folgen vier Jahre Sekundärstufe und vier Jahre Hochschule bis zum Bakkalaureat.
Allerdings sei die Schule laut Duba auch ein Refugium gegen weibliche Genitalverstümmelung und Kinderehe. Beides sind Probleme, die in dem abgelegenen Wüstenbezirk virulent sind und denen seitens des Staates kaum entgegengetreten wird. In Marsabit County liegt das durchschnittliche Heiratsalter laut einer Erhebung aus dem Jahr 2014 bei 18,3 Jahren. Immer wieder begegnet man Mädchen und jungen Frauen, die teils weit vor ihrem 15. Geburtstag verheiratet wurden.
Genitalverstümmelung großes Problem
Und obwohl weibliche Genitalverstümmelung in Kenia seit 2010 verboten ist, sind laut der Statistik im entsprechenden Verwaltungsbezirk namens Eastern 26,4 Prozent der Frauen Opfer der Praxis. Die Zahl ist allerdings wenig aussagekräftig, weil Eastern ein großes Gebiet und viele unterschiedliche Ethnien umfasst, von denen lange nicht alle Genitalverstümmelung praktizieren. Duba geht davon aus, dass im Einzugsgebiet seiner Schule 90 Prozent der Frauen betroffen sind.

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Direktor Sora Duba will mit der Pension warten, bis seine Absolventinnen sein Amt übernehmen können
Vor allem bei Mädchen bedeutet ein Schulbesuch in vielen Fällen einen Bruch mit der Tradition. Die Akzeptanz dafür sei in den patriarchal geprägten Nomadengruppen früher niedrig gewesen, erzählt Duba. Viele Eltern sind bis heute Analphabeten, von 2.000 Menschen könnten 600 nicht lesen. Verschärfend kommt hinzu, dass es Internate vor allem für Burschen gibt. Doch mittlerweile ortet der Direktor einen Wandel: Immer mehr Eltern würden sich Bildung für ihre Kinder wünschen und ihre Töchter von weit her nach Kalacha schicken.
NGOs mit Vorbildfunktion
Für den Sinneswandel mitverantwortlich sind wohl auch lokale Hilfsorganisationen wie die von der Caritas Austria unterstützte Gruppe PACIDA. Die in Marsabit und Äthiopien aktive NGO für Nomadengruppen betreibt einerseits Nothilfe, andererseits hat sie sich eine Verbesserung der Bildungssituation der Gruppen auf die Fahne geheftet und trägt das energisch in die Dorfgemeinschaften.

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Privatschulen werden nur wenig von der Regierung unterstützt: Sie zahlt die Lehrer und wenige Schulbücher
Die Mitglieder der Gruppe stammen selbst aus Nomadendörfern, viele sind nach abgeschlossenen Ausbildungen in ihre Heimat zurückgekehrt und nun dort tätig. Ein Beispiel ist die Ingenieurin Amina Isako, die in der Hauptstadt Nairobi Wassermanagement studiert und nun in der Stadt Turbi ein Brunnensystem mitkonstruiert hat, das 9.000 Menschen und 13.000 Tiere mit Wasser versorgt.
Eliteschule im Niemandsland
Zu den Prestigeprojekten PACIDAS gehört ebenfalls eine Schule, die Tiigo Academy in Burgabo. An ihren Toren prangt auf Deutsch das Schulmotto „Erfolg beginnt hier“ - wohl eine Hommage an NGOs aus deutschsprachigen Ländern, die geholfen haben, die Schule in der Wüste mit aufzubauen. Die Caritas Austria hat mit 800.000 Euro den Bau der Gebäude finanziert, von der Caritas Deutschland kam Geld für eine schuleigene Regenwasseraufbereitungsanlage.

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Die Tiigo Academy soll eine Eliteschule werden. Das kostet: Umgerechnet 100 Euro zahlen die Eltern für drei Monate
Weil erst drei Klassen unterrichtet werden, wirkt das Gelände noch verwaist. Im Vergleich mit der Umgebung sind die Strukturen aber bereits jetzt außergewöhnlich: Es gibt acht Klassenräume mit fixen Plätzen für die Kinder und zwei saubere Schlafsäle mit Stockbetten. Die Sanitäranlagen sind deutlich über dem lokalen Standard: Es gibt Duschen und statt Latrinen Porzellantoiletten. Lauter Dinge, die in der Umgebung alles andere als eine Selbstverständlichkeit sind.
Hinweis
Die Reise wurde zum Teil von Sponsoren der Caritas finanziert.
Trotzdem klagt Direktor David Denge noch über Defizite: So habe man etwa nicht genug Bücher, Pulte und Spielgeräte. Man wünsche sich zudem Autos sowie eine Kamelherde, um die finanzielle Unabhängigkeit der Schule gewährleisten zu können. Derzeit hebt die Schule, die zur Exzellenzschule werden will, 100.000 kenianische Schilling für drei Monate ein. Das sind rund 1.000 Euro - für Kenia eine erkleckliche Summe.
Viele Schüler, wenige Schulen
In Kenias Schulsystem liegt vieles im Argen. Während die Zahl der Schüler seit der Abschaffung von Gebühren für öffentliche Schulen enorm gestiegen ist, wurde nie genug Geld für ausreichend Schulen oder Lehrkräfte zur Verfügung gestellt. Das Betreuungsverhältnis ist oft schlecht, viele Lehrer sind mangelhaft ausgebildet. Zudem fehlt es vielen Einrichtungen an Lehrmaterial und Infrastruktur. Qualität gibt es noch eher an Privatschulen, die aber gerade für die Ärmsten nicht erschwinglich sind.

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Ein Blick in den Klassenraum in der Tiigo Academy
In den von der Dürre betroffenen Gebieten werden die Menschen nun doppelt so schwer getroffen. Nicht nur, dass der Zugang zu Bildung in dem dünn besiedelten und großen Land ohnehin wesentlich schwieriger ist als in anderen Teilen Kenias. Nun droht die Dürre Hunderttausende Kinder von einer Bildungskarriere abzuhalten. Angesichts des Klimawandels, der den nomadischen Lebensentwurf zunehmend bedroht, ist diese Entwicklung besonders folgenschwer.
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Saskia Etschmaier, ORF.at, aus Marsabit