Der Mensch ist sich ein Alien
Ist der Mensch nicht nur ein Wesen, das andere Spezies in sein Ordnungssystem zwingt - sondern auch ein Wesen, das sich selbst als Gesamtsystem wahrnimmt, auf dem das Fremde keinen Platz haben darf? Entfremdung - das ist das Motto eines der vielleicht spannendsten Kunstevents dieses Jahres im kleinen norwegischen Ort Moss, in dem nun zum neunten Mal die Momentum-Biennale stattfindet.
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Was als eine Art documenta der nordischen Nationen begonnen hat und als Projekt, über die Kunst das eigene, nicht selten überselbstbewusste Gesellschaftskonzept zu hinterfragen, wird heuer bis in den Herbst hinein ein großer internationaler Parcours, der zeitpolitischen Fragen neue, kreative Antworten entgegenhält. Zudem findet das Event in einer der schönsten Gegenden Skandinaviens, im Fjord von Oslo, statt.
Brücken zwischen Kunst und Biologie
Auffällig an den Locations dieser Kunstbiennale, die auch heuer wieder von fünf Kuratoren aus unterschiedlichen nordischen Ländern gestaltet wurde: Die Brücke zwischen Kunst und Biotech ist sehr stark, raumgreifend - und auch so angelegt, dass man sich den aufgeworfenen Fragen nur schwer entziehen kann. Viele der ausgestellten Arbeiten sind interaktiv und ziehen die Betrachter in den Erlebens- und Erkenntnisprozess hinein.
Vorgabe der Biennale war das Thema „Alienation“, ein Begriff, der in so manch skandinavischem Land eine besondere Herausforderung darstellt, empfinden sich doch skandinavische Länder und Finnland als gesellschaftlich homogen. Finnland musste sich erst in jüngster Zeit eingestehen, kaum Erfahrung mit dem Thema Migration und fremde Kulturen im eigenen Land zu haben (mit Ausnahme der stets gefürchteten „Russifizierung“, die aber historischer Gründe in der Nation hat, die heuer ihren 100. Geburtstag feiert).

Grafik: APA/ORF.at
Schweden, um ein anderes Beispiel zu nehmen, stellt sich dem Thema Einwanderung wiederum, indem es versucht, das Fremde rasch in die schwedischen „Role-Models“ zu integrieren. „Fremdheit“, so brachte es einer der Kuratoren im Vorfeld auf den Punkt, „ist etwas, das wir mit Blick auf die gegenwärtige USA gern an Donald Trump festmachen“ - aber selber sei man gar nicht so geübt im Umgang mit dem Fremden im eigenen Kulturrahmen.
„Wir müssen das Fremde integrieren“
„Fremde Lebensformen oder fremdbestimmte Prozessabläufe spielen heute einen zentralen Bestandteil in der Umwälzung, in der sich unsere technologischen, sozialen und ökologischen Systeme befinden“, halten die Kuratoren Ulrika Flink aus Schweden, Ilari Laamanen aus Finnland, Jacob Lillemose aus Dänemark, Gunhild Moe aus Norwegen und der Isländer Jon Ransu fest. Alle haben sie Arbeiten aus der ganzen Welt nach Norwegen geholt, die das Thema auf ganz unterschiedliche Weise ausreizen, mit dem Fokus, dass die Zuseher tief in die Werke eintauchen und mit ihnen interagieren müssen.

Maria Havstam/Punkt 0
Ein Wald auf dem Mond - bildliche Utopie von Jussi Kivi
Man trifft auf der Momentum-Biennale auf einen Mondwald des Finnen Jussi Kivi und durchschreitet das „Museum of Non Humanities“, eine Installation, welche die Konstruktion und Klassifizierungen von Spezies durch den Menschen komplett auf den Kopf stellt.
Der Körper als fremde Landschaft
Der Däne Rolf Nowotny wiederum zeigt eine Installation, die sich mit dem Fremdwerden des eigenen Körpers und dem Körper der Gesellschaft auseinandersetzt. Seine Installation zeigt eine struppige Oberfläche, die die Haut eines Menschen ebenso sein könnte wie eine halb verödete Vegetationslandschaft zwischen Leben und Absterben.
Fremdzellen und Selbstentgrenzung
Eine der Arbeiten mit besonderer Sogwirkung auf der Biennale ist der in Amsterdam tätigen Österreicherin Sonja Bäumel gelungen, die mit dem seit Jahren laufenden Projekt „Being Encounter“ eine Art Zwischenstand ihrer Reflexionen zeigt und das Publikum auf eine aufregende Entdeckungsreise mitnimmt. „Mehr als 50 Prozent der Zellen auf unserem Körper sind fremd und mikrobisch“, beschreibt Bäumel im Gespräch mit ORF.at den wissenschaftlichen Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Was, so ihre Frage, wenn wir mit diesen Zellen in Kontakt treten können? Und in diesem Fall: Welche Formen der Kommunikation sind möglich zwischen uns und dem fremden Mikroorganismus, den wir immer mit uns herumtragen?
Anreiz für ihre Arbeit sei das vom wissenschaftlichen Diskurs erzeugte neue Menschenbild, dem sie sich als Künstlerin stellen will. Ihr Ansatz: wissenschaftliche Fragestellungen künstlerisch zu beantworten bzw. ihnen mit offenen Erfahrungsstrukturen zu begegnen. Mit ihrer nun in der Kunsthalle in Moss ausgestellten Arbeit lädt sie das Publikum unter eine verspiegelte Hemisphäre ein, unter der sie die Fremdzellen in Gelatinform überdimensional aufgeblasen und wie eine Spielwährung in den Raum gelegt hat. Indem man mit der Zelle in Kontakt tritt und unter die Hemisphäre schlüpft, begibt man sich in den Prozess einer Spiegelung, die letztlich auch die Grenzen zwischen dem eigenen Körper und dem Unendlichen niederreißt.

Sonja Bäumel
„Being Encounter“: Unter einer verspiegelten Hemisphäre soll das Publikum mit den verfremdeten Fremdzellen in Kontakt treten
Das Fremde in und um uns
Was, so könnte man mit der Arbeit Bäumels fragen, bleibt als Elementarteilchen von uns - und wie gehen wir mit dem fremden Teil auf uns und gegenüber von uns um? Bäumel interessiert sich mit dem Projekt, wie sie es selbst formuliert, für die „Bakteriensprache“, für ein Sprach- und Codierungssystem, das auf jeden Fall nonverbal funktionieren müsse. Und, so ein wichtiger Schlüssel für den Zugang: Wir, als Menschen, können uns nicht mehr „über alles drüberstellen“.

Sonja Bäumel
Allmähliche Verflüssigung des Ich im Kontakt mit den Mikroben
Der Umgang und das In-Kontakt-Treten mit dem Fremden sind für Bäumel schon auf der elementarsten Eben unvermeidlich. Aufspannen möchte sie diese Überlegungen im sozialen Raum und verweist dabei auf jüngste Strömungen in der Soziologie, wo man Erkenntnisse der Biotechnologie mit Sozialmodellen abseits des bisher bekannten Konstruktivismus in Verbindung setzt. Bäumel bezieht sich bei ihren Überlegungen unter anderem auf den MIT-Anthropologen Stefan Helmreich und seine Arbeit über Meeresmikroben, deren Kommunikationsform er mit digitalen Kommunikationsmodellen in Verbindung setzt.
„Wir schwimmen in Biologie, aber wir spüren sie nicht“, bringt Bäumel das Interesse hinter ihrem Projekt auf den Punkt. Fremderfahrung wird im Umgang mit den leuchtenden Fremdzellen zu einem nicht zuletzt aus produktiver Neugierde getriebenen Erkundungsvorgang.
Im Austausch mit zahlreichen anderen Exponaten in der Kunsthalle Moss und den anderen Orten der Biennale entsteht ein breiter Erkundungsraum, in dem die Besucher noch bis 11. Oktober eines erleben können: dass die Relativität und auch Kleinheit des Menschen nicht immer etwas Erschreckendes haben müssen. Sie lassen neue Erkenntnisse zu - die im Idealfall auch unsere Ansicht über Organisationsformen, wie das Leben „zu sein hat“, inspirieren und kitzeln können.
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