En Marche für Partei und Kandidaten
Einen Tag vor der zweiten Runde der französischen Parlamentswahl scheint Präsident Emmanuel Macron und La Republique en Marche (REM) ein haushoher Sieg nicht mehr zu nehmen zu sein. Dennoch mobilisierten seine Anhänger auf den Straßen bis zur letzten Minute - seit Mitternacht darf nicht mehr wahlgekämpft werden - potenzielle Wähler. Und auch die in der Stichwahl verbliebenen Kandidaten und Helfer der anderen Parteien waren unterwegs, wenn auch teilweise mit unübersehbarer Verzweiflung.
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Zumindest ein Argument eint alle Wahlkämpfer: Die historisch niedrige Wahlbeteiligung von nur 48,7 Prozent in der ersten Runde der Parlamentswahl sei ein Problem für die Demokratie. Am kommenden Sonntag wird sie noch niedriger eingeschätzt. Zum einen, „weil Frankreich einfach wahlmüde ist“, wie die 30-jährige REM-Wahlkämpferin Charlotte erklärt. Vorwahlen, zwei Runden Präsidentschaftswahl, und nun zwei Runden für die Nationalversammlung - „den Leuten reicht das langsam einfach“.
Sie selbst ist, wie sehr viele andere Macron-Anhänger, in den letzten Monaten erst so richtig auf den Politikgeschmack gekommen. Das Hauptargument, mit dem sie um Wähler wirbt, hört man nahezu mantraartig von allen Seiten: „Nicht links, nicht rechts“, etwas „ganz Neues“ sei die Partei.

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„Nicht links, nicht rechts“: Die Wahlkampfhelfer sind von Macron begeistert, weil er „etwas ganz Neues versprochen hat“
Zweidrittelmehrheit in Aussicht
Hieß es noch vor einem Monat, kurz nach Macrons Wahl zum Präsidenten, dass er unmöglich mit seiner damals noch Bewegung, jetzt Partei auch eine Parlamentsmehrheit erringen könnte, stehen nun die Zeichen auf Zweidrittelmehrheit. Für viele bisherige Abgeordnete ist das ein Schlag ins Gesicht, manche sind rechtzeitig - sowohl von links als auch von rechts - übergelaufen, andere sind in der Stichwahl ausgeschieden oder kämpfen jetzt auf laut Prognosen höchstwahrscheinlich verlorenen Posten.
So etwa die Sozialistin Seybah Dagoma, die 2012 als Abgeordnete für den dritten und zehnten Pariser Bezirk gewählt wurde. Im ersten Wahlgang erreichte sie nur 12,47 Prozent, in der Stichwahl trifft sie nun auf Benjamin Griveaux, einen mächtigen REM-Gegner, der mit 43,63 Prozent einen deutlichen Vorsprung vorzuweisen hat - und als Gründungsmitglied von En Marche und Sprecher von Macron in den letzten Monaten viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte.

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Benjamin Griveaux gegen Seybah Dagoma lautete das Duell in den Pariser Bezirken drei und zehn
Pariser Bürgermeisterin gibt Wahlkampfhilfe
„Die Mehrheit, die der Präsident in der Nationalversammlung haben wird, ist beispiellos“, erklärt Dagoma bei ihrer letzten Wahlkampftour am Freitag in Paris. „Aber es sind 50 Prozent der Wähler zu Hause geblieben, das ist ein Risiko, eine Krise der Demokratie.“
Ähnlich erklärt das auch die Pariser Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, die für eine Runde Händeschütteln und Flyerverteilen gemeinsam mit Dagoma im Bezirk unterwegs ist. In den kleinen Geschäften rund um den Canal St. Martin will sie für die sozialistische Kandidatin Stimmung machen und betont, wie quasi alle Politiker der anderen Fraktionen, wie wichtig eine starke Opposition in der Nationalversammlung sei.

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PS-Kandidatin Seybah Dagoma erhält Schützenhilfe von Bürgermeisterin Anne Hidalgo
Anhänger Macrons sehen das naturgemäß anders - schließlich sei der neue Präsident ohne eine starke Mehrheit in der Nationalversammlung nicht in der Lage, seine umfassenden Reformen umzusetzen. Dass er das tut, davon sind seine Anhänger überzeugt - auch wenn die Erwartungen, die jeder Einzelne an ihn hat, sehr hoch und extrem unterschiedlich sind.
Für die Partei, nicht unbedingt für die Kandidaten
Um die eigentlichen Kandidaten für das Parlament scheint es jedenfalls in der Endphase des Wahlkampfs auf den Pariser Straßen nicht immer zu gehen. Chantal Leib etwa, Pensionistin und En-Marche-Anhängerin der ersten Stunde, teilte lieber Macron-Flyer aus als solche für Griveaux.

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„Für Europa“: Chantal Leib ist glühende Anhängerin von Macrons Europapolitik und wirbt deshalb für REM um Stimmen
Eigentlich habe sie sich ja für einen anderen REM-Kandidaten engagiert, für Sylvain Maillard im ersten Pariser Wahlkreis. Ihm gelang es als einem von vier Abgeordneten frankreichweit direkt ins Parlament einzuziehen. Nun engagiere sie sich eben in einem anderen Bezirk, so Leib gegenüber ORF.at. Macrons Ideen für Europa hätten sie überzeugt und sind für sie das schlagkräftigste Argument.
„Mit der Gleichheit hapert es in Frankreich noch“
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ habe Macron versprochen, erklärt etwa die Wahlhelferin und Anwältin Fabienne Arrighi gegenüber ORF.at. Vor allem mit der Gleichheit - etwa in Bezug auf die Gleichstellung von Mann und Frau und von Angehörigen aller Religionen - hapere es jedoch in Frankreich ganz enorm, von Macron erwartete sie sich nun, dass sich das ändert. Der Wahlsieg Donald Trumps habe sie quasi wachgerüttelt, seitdem ist sie für En Marche unterwegs.

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Seit dem Wahlsieg Donald Trumps engagiert sich Fabienne Arrighi für En Marche
Dass die Erwartungen und Vorschusslorbeeren an Macron möglicherweise zu hoch oder früh verteilt sind, davon wollen seine Anhänger derzeit nichts wissen: Der Sonntag werde eine starke Mehrheit bringen, so viel ist sicher. Dass das französische Volk, wie schon in der Vergangenheit, auch nach der Wahl mit Streiks gegen Reformen sein werde, auch damit sei natürlich zu rechnen, räumt Wahlhelferin Charlotte ein, aber: Das sei eben Frankreich - „alle wollen etwas Neues, aber wenn es ernst wird, will keiner Veränderung“.
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Sophia Felbermair, ORF.at aus Paris