„Ich habe ein Problem“
Einem weit verbreiteten Irrtum nach gibt es in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften keine originäre Frauenbewegung. Das Gegenteil war und ist der Fall. Die Pionierinnen der Emanzipation arbeiteten sich am Kampf für Frauenrechte und gegen den Schleierzwang ab; eine kleine Kulturgeschichte.
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2008 ging das erste arabische Webfrauenradio von einem Kairoer Wohnzimmer aus on air: „Banatwabass - Girls only“. Die ersten Worte der jungen Gründerin: „Mein Name ist Amani El Tunsi, ich bin 24 Jahre alt und ich habe ein Problem mit dieser Gesellschaft.“ Die Community wuchs auf fünf Millionen Abonnentinnen. Ihr Engagement gilt auch heißen Eisen wie sexueller Gewalt und Beschneidung, so El Tunsi im Gespräch mit ORF.at.
Tabuthemen, mit denen die prominente Ärztin und Autorin Nawal El Saadawi seit ihrer Studie „Frau und Sexualität“ 1971 für Aufregung in Ägypten sorgt. Einige Bekanntheit erlangte auch die in Ägypten gebürtige und in Saudi-Arabien sozialisierte Mona Eltahawi. Mit Bestsellern wie „Warum hasst ihr uns so? Für die sexuelle Revolution der Frau in der islamischen Welt“ wendet sich die Wahlamerikanerin gegen Misogynie in der arabischen Welt.
Ikonen im Kampf um Frauenrechte
Fatma Mernissi wiederum gilt als Grande Dame der Marokkanischen Freiheitsbewegung. Die 2015 verstorbene Soziologin schuf das feministische Standardwerk „Geschlecht, Ideologie, Islam“. Für den ägyptischen Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus war sie „die einflussreichste Intellektuelle der arabischen Welt“.
Die iranische Menschenrechtlerin Schirin Ebadi wurde 2009 gar mit dem Friedensnobelpreis für Frauen- und Kinderrechte ausgezeichnet. Die Menschenrechtsaktivistin Seyran Ates kämpft seit Jahren gegen die Auswüchse des Islamismus wie Zwangsehe, Schleier und Ehrenmord. Jetzt hat die Deutsche mit türkischen Wurzeln auch noch eine Ausbildung zur Imamin absolviert, schrieb ein Buch darüber und eröffnet am 16. Juni eine Moschee der Toleranz in Berlin (siehe Interview von ORF.at mit Ates).
Zwischen Orient und Okzident
Es können also auch mehrheitlich muslimische Gesellschaften auf eine säkulare, feministische Tradition verweisen. Mehr noch als ihre Mitstreiterinnen im Westen leben sie das Postulat: Das Private ist politisch. Mit durchaus höherem Risiko - und mitunter Todesmut.
Sie traten in Hungerstreiks, um das Wahlrecht zu erlangen, sie warfen ihre Schleier in spektakulären Inszenierungen ins Meer. Sie schrieben Pamphlete, riefen zu Demos auf, gingen zu Zigtausenden auf die Straße. Im Kampf für Frauenrechte riskierten sie ihre Freiheit, Leib und Leben. Vielen blieb nur die Flucht ins Exil. Doch sie konnten auch immense Erfolge verzeichnen, vielfach gelang es, Forderungen gesetzlich zu implementieren.
„Es gibt“, so die Berliner Genderforscherin Hoda Salah in „Diskurse im islamischen Feminismus“, „in Ägypten wie in vielen anderen muslimischen Ländern auch eine lange Tradition weiblicher Einflussnahme auf das öffentliche Leben. Bis heute gelten Gesetze, die Frauen ein Arrangement mit ihrer Doppelrolle als Berufstätige und Mutter garantieren. In der Folge sind Frauen auch in gehobenen beruflichen Positionen als Ärztinnen, Professorinnen und Lehrerinnen vertreten.“ Unter ihnen finden sich die bedeutendsten feministischen Playerinnen.
Vom Papyrus zum Pamphlet
Als Epizentrum des Feminismus entwickelte sich nicht zufällig Ägypten. Bereits in der Kulturgeschichte der Pharaonen verfügten Frauen über mehr Rechte als in den antiken Kulturen der Griechen und Mesopotamier. Sie durften ihren Gatten frei wählen, waren ebenbürtige Partnerinnen und hatten mit Cleopatra und Hatschepsut sogar Anteil an der Herrschaft des Landes, wie etwa Joyce Tyldesly in „Töchter der Isis - Die Ägypterin“ beschreibt.
Die Ausbreitung des Islam, politische und soziale Entwicklungen sorgten für Umbrüche. Nach der türkisch-osmanischen Eroberung zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden die Frauen ihrer Rechte entledigt und waren bis in die neueste Zeit von zahlreichen gesellschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen.
Frauen, die schreiben, sind gefährlich
Ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wollten die neuen Feministinnen die Welt mit der Erneuerungsbewegung verändern, entsprungen der literarischen Intellektuellenströmung „Al-nahda al-nisa’ijja“ („Das Erwachen der Frauen“). Bücher und Zeitschriften, Salons und Frauenvereinigungen wurden ihre Sprachrohre.
1892 startete als eine der ersten arabischen Zeitschriften überhaupt auch die erste Frauenzeitschrift des arabischen Raumes, „Al-Fatat“ („junges Mädchen“), im ägyptischen Alexandrien als Forum für frauenpolitischen Diskurs. Herausgeberin und Gründerin war die syrische Christin Hind Nawfal. Das Blatt wurde 1894 eingestellt - wegen Heirat der Herausgeberin. Doch die weiblichen Stimmen, die da erstmals zu Wort kamen, verstummten nie wieder.
Pionierinnen mit Todesmut
Susanne Bräckelmann erforschte in ihrer Untersuchung „Wir sind die Hälfte der Welt“ Publizistinnen dieser Zeit. Eine der Autorinnen der ersten Frauenzeitschrift und Feministin der ersten Stunde war Zajnab Fawwas, Wahlägypterin, gebürtig 1860 im Südlibanon. Ende des 19. Jahrhunderts erstellte sie ein umfangreiches biografisches Frauenlexikon. Ihr literarisches Werk umfasst auch „Ar-Ras’il al-Zajnabja“ („Zajnabs Briefe“) zu Frauenbildung und Frauenrechten. Ihr „al-Hawa wa-al-Wafa“ („Liebe und Treue“) war das erste Theaterstück, das von einer Frau in Arabisch verfasst wurde.
1919 positionierte sich Hoda Schaarawi als prominente Anführerin der Bewegung mit der Organisation der ersten großen Frauendemo Ägyptens. Vier Jahre später wurde sie erste Vorsitzende der „Ittihad an-nisa al-arabi“, der ersten ägyptischen Frauenorganisation, auf Englisch „Egyptian Feminist Union“ (EFU). Wie Beth Baron in „The Women’s awakening in Egypt“ zeichneten auch andere ihren Lebensweg nach.
Von der Pionierin ist eine legendäre Anekdote überliefert. Mit spektakulärem Aktionismus soll sie auf der Rückreise von einem Kongress für die Abschaffung des Schleierzwangs geworben haben. So habe die Aktivistin unter großem Applaus ihrer Anhängerinnen bei der Ankunft in Alexandrien ihren Schleier demonstrativ ins Meer geworfen. Mit Erfolg: Der Schleierzwang fiel.
Die Töchter des Nils
Doria Schafik war die erste Ägypterin, die an der Sorbonne promovierte. Ihr Leben ist in Arbeiten vieler Wissenschaftler wie Cynthia Nelson und Mohammed Kein erforscht. Sie gründete 1948 die erste Frauenrechtspartei im Nahen Osten: „Bint El Nil“ („Die Töchter des Nils“). Die Feministin wurde zur Anführerin von 1.500 Frauen, die in den 1950er Jahren das ägyptische Parlament stürmten und für das Wahlrecht der Frauen in den Hungerstreik traten. Die Partei wurde 1957 verboten und Schafik 18 Jahre lang unter Hausarrest gestellt. 1975 stürzte sie sich vom Balkon ihres Hauses - mit Todesfolge.
Ein Superstar von Weltrang ist die um 1900 geborene Sängerin Oum Koultum, die Stimme Ägyptens, verehrt wie ein Nationalheiligtum. Als Kind mit ihrem Vater auf Tournee musste sie jahrelang Bubenkleidung tragen, um nicht unschicklich zu wirken. Sie legte eine glanzvolle Karriere hin, künstlerisch wie im Musikgeschäft. Als sie 1975 starb, säumten mehrere Millionen Trauernde die Straßen Kairos.
Eine Besonderheit des Orients: männliche Feministen. 1899 publizierte Kuasim Amin in Ägypten das einflussreiche Werk „Die Befreiung der Frau“. In Tunesien im selben Jahr geboren, setzte der Frauenrechtler At Tahir al-Haddad mit seinen Schriften das Verbot der Polygamie und der Vollverschleierung in Tunesien durch.
Die Feinde der Freiheit
Allgegenwärtig ist die Bedrohung durch Extremisten. Die Ärztin Saadawi, nach Morddrohungen Radikaler einige Jahre ins US-Exil geflüchtet, steht laut Nachrichtenmagazin „Spiegel“ auf einer Todesliste der Islamisten. Auch Medienfrau El Tunsi ist im Fadenkreuz der Fundamentalisten. Als ihre Buchhandlung während der kurzen Herrschaft des Muslimbruders Mursi abgefackelt wurde, musste sie ihre Heimat verlassen, sagte sie ORF.at. Die Verfolgung reicht mitunter bis ins Grab: 2013 strebten die Muslimbrüder eine Streichung Schafiks aus den Schulbüchern an. Die Begründung laut Sarah Eltatawi in der „Taz“: Sie trug kein Kopftuch.
Die jüngste Friedensnobelpreisträgerin aller Zeiten, Malala Yousafzai aus Pakistan, war gerade einmal 15 Jahre jung, als Taliban ihren Schulbus kaperten, ihr in den Kopf schossen und sie schwer verletzten. Der Grund: Malala hatte sich für Mädchenschulbildung eingesetzt. Der Bedarf der Feministinnen an internationaler Solidarität kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
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