Nach Athen eröffnet die documenta 14 nun auch in Kassel ihre Pforten. Chaos ist hier Programm, mit dem Sich-Verlieren zwischen den zahllosen Kunstorten als Ziel. Mit viel Witz wird überspielt, dass es einmal mehr gegen die alten, sattsam bekannten Feinde geht.
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Adam Szymczyk wirkt nicht wie ein Typ, der bei Partys große Reden schwingt. Nicht einmal bei seiner eigenen, ganz großen Party: der Eröffnungspressekonferenz der documenta 14 im Kulturpalais von Kassel. Bunt wie Papageien, schrill wie Dame Edna wirken die anderen Redner auf dem Podium im Vergleich. Die Showeinlage bietet Ali Moraly. Nicht weil sein Name so gut zu dieser documenta passt, sondern weil das Geigenspiel des syrischen Kriegsflüchtlings, voll der melancholischen Widerborstigkeit, eine bestechende Schönheit entwickelt.
Dann der Auftritt des künstlerischen Leiters der documenta, Szymczyk, in legerem, schwarzem Anzug, zurückgenommen in der Intonation, den Blick öfter gesenkt als zum Publikum gerichtet; lange Dankesworte an all jene, die ihn, wie er sagt, während der letzten, mühsam-produktiven vier Jahre, „am Leben erhalten haben“. Im Reader schreibt er über das völlig irrsinnige Unterfangen, ein ohnehin schon megalomanisches Unterfangen wie die documenta an zwei weit voneinander entfernten Orten auszutragen.
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Adam Szymczyk, künstlerischer Leiter der documenta, bei der Eröffnungspressekonferenz
Die Kunstmaschine wird angeworfen
Irgendwie ist genügend Geld zusammengekommen, irgendwie hat das Team tatsächlich sowohl in Athen als auch in Kassel eine documenta-würdige Schau zusammengebracht, mit Kunst im öffentlichen Raum, die auf ihren Standort Bezug nimmt, mit Dutzenden Ausstellungen zwischen Malerei und Multimedia-Installationen, mit Künstlerinnen und Künstlern von Argentinien über Österreich bis Australien, mit unzähligen Performances und einem Rahmenprogramm, das jeden Rahmen sprengt.
Szymczyk blickt im Gespräch mit ORF.at unstet umher, während im Fridericianum, traditionell der Hauptausstellungsort der documenta, bereits Hunderte Journalisten und Künstler die importierte Dauerausstellung des Athener Museums für Moderne Kunst (EMST) begutachten, die 1:1 übernommen wurde. „Von Athen lernen“ lautet das offizielle Motto, und der Kulturtransfer von Athen nach Kassel scheint zu funktionieren: „Es ist alles rechtzeitig fertig geworden. Naja, fast, ein paar Kleinigkeiten fehlen noch.“
Am besten ohne Erwartungen kommen
Und wie es ihm geht, jetzt, wo alles so gut wie fertig ist, nach vier Jahren harter Arbeit? Szymczyk ringt sich ein Lächeln ab: „‚Whooom‘ beschreibt das Gefühl ganz gut. Zuerst war noch alles etwas furchterregend, wir haben bis tief in die Nacht hinein gearbeitet. Aber jetzt geht es mir gut.“ Wie ein Besucher fühle er sich, nach eineinhalb Stunden habe er bereits vergessen, wo er eigentlich sei - vor allem hier, ideell in Athen, und doch in Kassel, Szymczyk nennt das eine „multiple Dislokation“.
Er rät Besuchern, es ihm bei all der Fülle an Kunst gleichzutun: „Die Leute sollen sich entspannen und möglichst ohne irgendwelche konkreten Erwartungen kommen.“ Das ist nicht leicht, die documenta gilt als wichtigste Kunstschau weltweit, als Stelldichein der Avantgarde, bei dem nie Kunst um der Kunst willen gezeigt wird, sondern Ästhetik und Technik, wenn überhaupt, nur als Sklaven gestrenger Gesellschaftsanalyse herhalten dürfen.
Von der „Verfinsterung der globalen Situation“
Den diesbezüglichen Rahmen steckt ein programmatisches Buch ab, das alles andere als ein Programmheft ist, eher eine intellektuelle Standortbestimmung. Szymczyks Beitrag zum aktuellen Reader ist ein düsterer Text, es ist darin vom endgültigen Abbau des Sozialstaates, von Kriegen um Ressourcen und darauf folgenden, „nicht enden wollenden“ humanitären Katastrophen die Rede: „Diese Verfinsterung der globalen Situation hatte erhebliche Auswirkungen auf unser tägliches (und nächtliches) Nachdenken über und unser Agieren in Bezug auf und für die documenta 14.“
Das klingt nach dem erwartbaren Kuratorensprech, in dem formelhaft die Welt für ihre Schlechtigkeit gegeißelt wird. Doch die Künstler füllen das Blabla mit Leben. Herzstück dieser documenta ist der „Parthenon der Bücher“ der argentinischen Künstlerin Marta Minujin. Sie hat bei der Frankfurter Buchmesse dazu aufgerufen, ihr Bücher zukommen zu lassen, die irgendwann irgendwo verboten waren. Sie hat vor dem Fridericianum, mitten in Kassel, in Originalgröße das Parthenon der Athener Akropolis als Metallgestell aufbauen lassen.
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Marta Minujin inmitten ihres riesigen Bücherkunstwerks „The Parthenon of Books“ (1983/2017)
Um die Säulen werden mit Klarsichtfolien die Bücher gewickelt. Der Tempel in Athen ist Pallas Athene gewidmet, der Göttin des Kampfes, der Weisheit, der Strategie und der Kunst. Wofür sie heute kämpfen würde? In Zeiten der Journalistenverfolgung und der Zensur in Ländern wie Russland und der Türkei wohl für Meinungsfreiheit - und die soll das Kunstwerk auch symbolisieren, wie Minujin im Gespräch mit ORF.at sagt. So etwas wie verbotene Worte könne und dürfe es nicht geben.
Bücher, die über sich selbst hinauswachsen
Minujin ist das Gegenteil von Szymczyk, sie als exaltiert und aufgedreht zu bezeichnen, wäre eine schändliche Untertreibung. Sie lacht unablässig, gestikuliert wild und inszeniert sich nicht zuletzt modisch selbst als Kunstwerk. Sie sagt, als Teil dieses Monuments der Freiheit würden die Bücher befreit, sie würden über sich selbst hinauswachsen, sich verändern.
Noch hat sie nicht genügend Bücher, das Kunstwerk zu vollenden - entsprechende Zusendungen sind also höchst erwünscht. Der „Parthenon der Bücher“ sieht aber auch so schon spektakulär aus, vor allem nachts, wenn er von innen heraus beleuchtet wird und das benachbarte Fridericianum regelrecht überstrahlt, das in seiner klassizistischen Form dem Kunstwerk ähnelt.
Was ist Demokratie eigentlich wirklich?
Drinnen im Fridericianum, in der griechischen Ausstellung, sind selbstredend nicht nur griechische Künstlerinnen und Künstler vertreten, sondern, ganz prominent im Erdgeschoß in einem eigenen Raum, auch ein Österreicher: Oliver Ressler. Er beschäftigt sich bereits seit Jahrzehnten mit politischen und sozialen Bewegungen rund um den Globus. Seine Installation „What is Democracy“ stößt beim Publikum sichtlich auf Interesse. Jahrelang hat Ressler dafür Aktivisten interviewt, woraus acht Filme entstanden sind, die nun auf acht Flatscreens gezeigt werden.
Die Klammer ist nicht nur der Inhalt - Kritik an kapitalistischen Lobbys, die demokratische Institutionen unterwandern und das Aufzeigen von Alternativen -, sondern auch eine große Projektion an der Wand, in der man sieht, wie die Flaggen jener Länder verbrannt werden, um die es in den acht Filmen geht. Unsubtil, die Holzhammer-Methode, denkt man im ersten Moment. Man muss sich Zeit nehmen für die einzelnen Videos, bis man versteht, warum es hier brennt. Am Ende stellt man sich selbst die Frage: Was ist eigentlich Demokratie wirklich?
Zwischen Vision und Alltag
Diese Frage steht ganz groß im Zentrum der documenta. „Von Athen lernen“ heißt auch, von der Wiege der Demokratie zu lernen, und - seit der Finanzkrise - zu lernen, was es bedeutet, in einem Land zu leben, über das demokratisch legitimierte EU-Institutionen einen Sparzwang verhängen, der das Sozialsystem in die Knie zwingt. Dann wird eben, so Ressler im Gespräch mit ORF.at, Widerstand geleistet. Die Interviews Resslers geben nicht nur über solche widerständigen Aktivitäten von der Occupy-Bewegung in New York über Athen bis Madrid Auskunft, sondern sind auch ein Brückenschlag zwischen kritisch-utopischer Theorie und realer Praxis.
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Der aufgelassene unterirdische Teil des Hauptbahnhofs wird als Kunstort bespielt
Genau dort, im Grenzbereich zwischen Analyse, Vision und Alltag, bewegt sich die documenta stets. Vor fünf Jahren hatte die damalige Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev einen fast schon mythischen, von vielen als spinnert-esoterisch kritisierten, von anderen als ungemein erkenntniserweiternd gelobten Ansatz: weg vom Anthropozentrismus, vom Solipsismus des Menschen - hin zur Sicht der Natur auf die Welt. Sie wollte eine Ausstellung machen, von der auch ihr Hund etwas hat, eine Ausstellung, bei der die Natur nicht Objekt ist, sondern das Heft in der Hand hält. Jedenfalls hat niemand, der damals in Kassel war, Kunstwerke wie den begrünten Müllhaufen vergessen - eine Metapher für die periphere Natur der Menschheit.
Auf der Suche nach Beuys
Szymczyks binationale Variante der documenta ist im Vergleich zu 2012 kämpferischer und kratzborstiger, sie eckt eher an als herauszufordern, sie ist konkreter in ihrer Gesamtaussage - und bietet weniger Überraschungen. Trump, die Flüchtlingskrise, Kriege und der Abbau von Sozialleistungen in westlichen Demokratien werden vielfach kommentiert, vom riesigen Betonobelisken als Refugee-Mahnmal über Videoinstallationen, die den brüllenden Trump zeigen, bis hin zum Panzer, der aus bequemen Sitzmöbeln in Tarnfarbe gebaut wurde - ein Symbol dafür, wie die Weltöffentlichkeit Kriege gemütlich aussitzt. Prozesse und Projekte sollen durch zahllose Veranstaltungen angestoßen werden, die über die Dauer der documenta hinausgehen: soziale Praxis als Kunst, revisited.
Aber ist ein Joseph Beuys dabei, der einst von Kassel aus die Kunstwelt auf den Kopf stellte? Sieht man hier grundsätzlich Neues, was man so oder so ähnlich nicht schon bei Festivals von der Größenordnung eines „steirischen herbsts“ gesehen hat? Der Fairness halber muss man diese Frage unbeantwortet lassen. Zu groß ist die documenta - und dann noch in zwei Städten -, als dass man sich in kurzer Zeit mehr als einen ersten Überblick verschaffen könnte. Ein Besuch der documenta ist immer auch eine Entdeckungsreise, bei der es keine richtige oder falsche Route gibt.
Eine dieser Routen führt heuer in Kassel, besonders lohnend, in die Unterwelt: Der aufgelassene, unterirdische Teil des Hauptbahnhofs wird bespielt, düster und zugleich ungemein witzig, mit Sitzgelegenheiten zwischen den Gleisen, Videoinstallationen in Katakomben, Kunstwerken neben alten Werbungen und einem Gruß an Griechenland am buchstäblichen Ende des Tunnels, dort, wo sich das Licht seine Bahn bricht, trotz aller „Verfinsterung der globalen Situation“.