Drahtseilakt mit positiver Ökobilanz
Was in Europa noch eine Seltenheit ist, gehört in Südamerika längst zum Alltag: Seilbahnen, die hoch über den Dächern den Nahverkehr entlasten. In dicht bebauten Metropolen wie Medellin, La Paz und Caracas prägen die bunten Gondeln bereits das Stadtbild. In österreichischen Städten wie Linz und Graz scheinen bereits angedachte Gondelprojekte dagegen wieder in Vergessenheit zu geraten.
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Einsteigen, Fotoapparat raus und sich dem flauen Gefühl hingeben, das den Magen bei jedem rumpelnden Pfosten überrollt. Gondelbahnen kennt man hierzulande vor allem als Freizeitgefährt, das einen beim Skifahren und Bergwandern von der Tal- zur Bergstation befördert. Kurzzeitig waren zwar auch in Österreich immer wieder Stadtgondelbahnen wie die Grazer Murgondelbahn und die Linzer Keplerbahn über die Donau im Gespräch - bisher blieben diese Projekte allerdings im Planungsstadium stecken.
In Graz haben die Diskussionen über das Murkraftwerk jene über eine geplante Gondelstrecke entlang der Mur übertönt. In Linz fanden sich zwar einige Investoren für das futuristische „Keplarium“-Projekt, doch fixiert ist bisher nichts. Beide Projekte wären allerdings wohl eher eine Touristenattraktion als eine konkrete Unterstützung im Alltagsverkehr gewesen.

Keplerforum Linz
Ob sie je gebaut wird? Futuristischer Projektentwurf für die „Planetare Seilbahn“ in Linz
Aufschwung mit Seilbahn
In anderen Ländern kommen Seilbahnen dagegen immer öfter als städtisches Nahverkehrsmittel zum Einsatz, das durchaus dafür gedacht ist, größere Menschenmengen täglich zur Arbeit zu befördern. Ein gelungenes Beispiel für die Vorteile urbaner Gondelbahnen ist die El Metrocable genannte Gondelbahn in der kolumbianischen Großstadt Medellin, die täglich bis zu 30.000 Menschen zu ihrem Arbeitsplatz bringt.
Mit 2,4 Millionen Einwohnern ist Medellin nach der Hauptstadt Bogota die zweitgrößte Stadt Kolumbiens. Früher berüchtigt für ihre Kriminalstatistik gilt sie inzwischen als „hippe Metropole“, in deren früher gemiedenen, oberen Bezirken heute Fans der Netflix-Serie „Narcos“ (basierend auf dem Leben des Medelliner Drogenbosses Pablo Escobar) auf der Suche nach Originalschauplätzen herumspazieren und Graffiti fotografieren.

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Kriminalität gesenkt, Lebensqualität gewachsen: Medellin gilt als Musterbeispiel für urbanen Seilbahnbau
Gondeln gegen Ghettobildung
Seit 2004 verbinden drei Seilbahnlinien sowie mehrere Freiluftrolltreppen (Escaleras Electricas) die in den steilen Hügeln gelegenen Stadtteile mit der pulsierenden Innenstadt. Schon fünf Jahre nach der Eröffnung der Metrocable war die Mordrate laut einem Bericht der Wochenzeitung „Die Zeit“ um zwei Drittel gesunken - auch weil die orange-weißen Gondeln der Isolierung und Ghettobildung in den armen Bezirken entgegenwirkten und es den Bewohnern der Oberstadt ermöglichten, täglich zur Arbeit in die inneren Bezirke hinunter zu „pendeln“.
Inspiriert ist das Medelliner Seilbahnsystem vom Teleferico de Caracas, der „schwebenden Straßenbahn von Caracas“, die 1952 in der Hauptstadt des Nachbarstaates Venezuela errichtet wurde, zwischenzeitlich stillgelegt war und seit 2000 teilweise wieder in Betrieb genommen wurde.
Seilbahnkontinent Südamerika
Das bergige Land Venezuela hat eine lange Seilbahntradition, die zuletzt allerdings für weniger positive Schlagzeilen sorgte: Eine 2011 noch unter Hugo Chavez bei der österreichischen Firma Doppelmayr in Auftrag gegebene Seilbahn vom Gebirgsort Merida auf den Pico Espejo (4.765 m Höhe), ist laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ noch immer nicht bezahlt und steht still. 106 Millionen Euro werden als Kostenpunkt kolportiert. Es gibt einen hochalpinen Konzertsaal und Marmormöbel in den Stationen: Kein Wunder, dass das von Krisen geschüttelte Land derzeit andere Sorgen hat, als sich um diese megalomanische Touristenattraktion zu kümmern.

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Millionengrab: Die bombastische Seilbahn in Merida, Venezuela, gebaut von der Vorarlberger Firma Doppelmayr
La Paz als Gondelhauptstadt
Als Best-Practice-Beispiel gilt dagegen das ebenfalls von Doppelmayr errichtete Seilbahnnetz der bolivianischen Stadt La Paz. Mit 30 Kilometern Länge wird es nach seiner kompletten Fertigstellung 2019 das längste Seilbahnnetz der Welt sein: Schon jetzt verkehren die Gondeln zwischen dem tiefer gelegenen Regierungssitz La Paz und der 800.000 Einwohner starken Nachbarstadt El Alto, in der sich Industrieanlagen, aber auch der gleichnamige Flughafen befinden.
Die ungünstige Gebirgslage lässt es nicht zu, zwischen La Paz und El Alto breite Hauptverkehrsstraßen zu bauen. Die schmalen und gewundenen Bergstraßen, die es gibt, waren permanent verstopft. Schon jetzt lindern die großzügigen Zehnergondeln, mit denen pro Richtung bis zu 3.000 Personen in der Stunde befördert werden können, das Problem merklich.

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In der bolivianischen Stadt La Paz, dem höchstgelegenen Regierungssitz der Welt, verkehren seit 2014 Seilbahnen
Gute Ökobilanz, problemloser Auf- und Abbau
Luftseilbahnen wie die in La Paz kennen keinen Stau. Sie schweben über stehende Autos, Busse und Straßenbahnen einfach hinweg. Im elektrischen Betrieb tragen sie dazu bei, den CO2-Ausstoß zu senken.
Zudem gilt ihre Errichtung als vergleichsweise günstig. Die Masten nehmen auf dem Boden der Stadt wenig Platz ein und sind - sollte sich die Strecke auf lange Sicht doch nicht rentieren - leicht wieder rückbaubar. All das sind deutliche Vorteile gegenüber anderen Projekten, die dieser Tage diskutiert werden, wie etwa Elon Musks vor allem von ihm selbst im Netz gehyptem unterirdischen Hochgeschwindigkeitszug für die staugeplagte Stadt Los Angeles.
Distinktionsmerkmal für „globalisierte“ Städte
Einiges spricht für die Errichtung von Seilbahnen in städtischen Ballungszentren. Eines der Hauptargumente ist aber noch nicht einmal ökonomisch motiviert: Seilbahnen geben einer Stadt ein Gesicht, eine Besonderheit, ein Markenzeichen. In Zeiten der Globalisierung, die viele Fußgängerzonen als austauschbare Abfolge internationaler Konzerne und deren Flagshipstores erscheinen lässt, sehnen sich viele Stadtbewohner nach einem solchen Alleinstellungsmerkmal.
Und Seilbahnen sind eben weithin sichtbar: So wertete etwa die Roosevelt Island Tramway, die berühmte Luftseilbahn die eine Insel im East River mit Manhattan verbindet, nicht nur die dort gelegenen Wohngebiete auf. Schnell wurde sie auch zum Schauplatz spektakulärer Hollywood-Actionszenen, unter anderem in Sam Raimis „Spider-Man“ (2002) und dem Horrorfilm „Dark Water – Dunkle Wasser“ (2005): Diese Bilder führen aber auch einen Nachteil der Mast- und Seilkonstruktionen vor Augen. Sie sind anfällig für terroristische Anschläge, nicht nur von Filmbösewichten.

AP/Mary Altaffer
Wer würde nicht gern über dem Stau der anderen schweben? Die Roosevelt Island Tramway verkehrt seit 1976.
Seilbahnen als Attraktion
Mittlerweile werden auch in Europa Seilbahnen diskutiert, geplant und gebaut, die mehr können, als Touristen auf Berge zu befördern. Während der Olympischen Spiele 2012 eröffnete etwa die Fluggesellschaft Emirates werbewirksam die Emirates Air Line in London, eine Seilbahn, die verschiedene Stadien und Veranstaltungsorte der Spiele mit U-Bahn-Stationen verband und bis heute in Betrieb ist: Zu Hochzeiten befördert sie bis zu 2.500 Personen pro Stunde.
Die Expo 1998 war Anlass für die portugiesische Hauptstadt Lissabon, eine Gondelbahn mit 40 verglasten Kabinen entlang des Flusses Tejo zu errichten. Heute wird die Telecabina Lisboa vorwiegend von Touristen genutzt, die die spektakuläre Aussicht genießen wollen: Denn die Stützpfeiler dieser Anlage wurden von der Firma Doppelmayr direkt im Flussbett selbst verankert.
Europäische Stadtseilbahnen im Kommen
Und auch in der deutschen Stadt Koblenz wurde eine ursprünglich für ein Spezialereignis errichtete Seilbahn zur Dauerlösung: Die Rheinseilbahn, die das deutsche Eck beim Zusammenfluss von Mosel und Rhein mit der hoch über der Stadt gelegenen, teilweise bewohnten Festung Ehrenbreitstein verbindet, soll zumindest bis 2026 weiter bestehen. Mit 7.600 Personen pro Stunde hat sie eine alltagstaugliche Förderkapazität und kann die Verbindung zwischen dem Gelände der Festung samt Lokalen, Ämtern, Museen und einer Jugendherberge und der Innenstadt herstellen.

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Die Rheinseilbahn, Koblenz, verbindet das deutsche Eck mit der Festung Ehrenbreitstein
Die Seilbahn Koblenz wird in Deutschland vielleicht nicht das einzige Überbleibsel einer Gartenschau bleiben. Auch während der diesjährigen Internationalen Gartenbauausstellung in Berlin verbindet eine von der Südtiroler Firma Leitner Ropeways gebaute, eineinhalb Kilometer lange Seilbahn zwei Berliner Stadtteile miteinander. Offen ist noch, ob und wie lange diese Seilbahn mit ihrer sehr speziellen Aussicht auf eine Front Plattenbauten am Rande des Bezirks Marzahn nach dem Ende der Gartenschau weiter betrieben werden kann.

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Aussicht auf den Plattenbau: Die neue Berliner IGA-Seilbahn steigt am U-Bahnhof „Neue Grottkauer Straße“ in die Höhe
Auch Österreichs Hauptstadt lebte übrigens ihren Traum vom Schweben während einer Gartenschau aus: 1964 eröffnete auf dem Gelände des heutigen Donauparks ein Sessellift, der bis in die 80er Jahre in Betrieb war. Im ORF-Archiv haben sich Aufnahmen dieser historischen WIG-64-Anlage erhalten.
Gelbe Gondeln über Ankara
Aber natürlich lassen sich auch in Europa Seilbahnen ganz ohne Anlass als reguläres Verkehrsmittel planen und bauen, so wie in Brest, wo die erste innerstädtische Seilbahn Frankreichs seit Herbst 2016 zwei durch den Fluss Penfeld getrennte Wohngebiete miteinander verbindet. Oder in Ankara: Hier bindet seit März 2014 eine Zehnerkabinenbahn die Stadtteile Sentepe und Yenimahalle an das städtische Metronetz an.

Leitner ropeways
Sieht so die Zukunft des Stadtverkehrs aus? Einer der futuristischen Gondelbahnhöfe von Ankara.
Mit der Seilbahn - die in diesem Fall in flachem Gelände rund 60 Meter über den Dächern der Stadt verläuft - brauchen die Bewohner statt zuvor 30 bis 60 Minuten im Bodenverkehr, gerade einmal zehn Minuten bis ins Zentrum der Stadt. Entsprechend sind die Betriebszeiten (6.00 Uhr bis Mitternacht) auf eine regelmäßige, alltägliche Nutzung ausgelegt.
Stromlinienförmige Zukunft?
Die vier futuristischen Einstiegsstationen der Seilbahn von Ankara lassen wohl am ehesten ahnen, wie europäische Stadtgondelbahnen in Zukunft einmal aussehen könnten: Stromlinienförmig, schnörkellos und mit viel natürlichem Licht.
Mag sein, dass Gondelbahnen in europäischen Städten derzeit noch eine Nischenexistenz führen; doch das könnte sich schnell ändern. Mit einer Bauzeit von rund einem halben Jahr wären solche Anlagen in kurzer Zeit errichtet. Und der aktuelle E-Bike- und Lastenfahrradboom zeigt, dass sich manche, nachhaltige Transporttrends quasi „über Nacht“ gegen traditionelle Lösungen durchsetzen können.
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