Premierministerin erleidet Schlappe
Die Konservative Partei von Premierministerin Theresa May hat die absolute Mehrheit im britischen Unterhaus verloren. Die Torys hatten Freitagfrüh nach Auszählung von fast allen der 650 Wahlkreise rechnerisch keine Chance mehr, die Marke von 326 Sitzen zu erreichen.
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Der vermutliche Wahlausgang gilt als schwere Schlappe für May. Die Regierungschefin wollte eigentlich mit der vorgezogenen Neuwahl die absolute Mehrheit der Konservativen im Unterhaus ausbauen und sich so Rückendeckung für die „Brexit“-Verhandlungen mit der EU geben lassen. Bisher hatten die Torys im Unterhaus 330 Mandate.
Rücktrittsaufforderungen an May
Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte May noch in der Wahlnacht zum Gehen auf. Sie sollte Platz für eine Labour-Regierung machen. May habe mit ihren Konservativen Sitze, Stimmen, Unterstützung und Vertrauen verloren, sagte Corbyn in seinem Wahlkreis Islington. Am 20. Mai hatte May in Sozialen Netzwerken geschrieben: „Wenn ich nur sechs Sitze verliere, dann verliere ich diese Wahl, und Jeremy Corbyn wird mit Europa am Verhandlungstisch sitzen.“

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Jeremy Corbyn konnte mit seiner Labour-Partei stark zulegen
Auch Ex-Finanzminister George Osborne, der unter May 2016 seinen Posten verloren hatte, stellte Mays Zukunft infrage. „Wenn sie ein schlechteres Ergebnis als vor zwei Jahren hat und fast keine Regierung bilden kann, dann bezweifle ich, dass sie auf lange Sicht Parteichefin der Konservativen bleiben wird.“ Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon von der linksseparatistischen Scottish National Party (SNP) bewertete Mays Ergebnis als Desaster. Nigel Farage von der rechtspopulistischen, EU-feindlichen United Kingdom Independence Party (UKIP) twitterte: „Die Konservativen brauchen einen Anführer, der an den ‚Brexit‘ glaubt.“
May will weitermachen
Die Premierministerin unterstrich indes die Bereitschaft der Konservativen, die Regierung weiterzuführen. Das Land brauche nun eine „Phase der Stabilität“, sagte sie nach der Verkündung des Wahlergebnisses in ihrem Wahlkreis Maidenhead. Die Konservative Partei werde voraussichtlich als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgehen. „Es obliegt uns, für diese Stabilität zu sorgen“, sagte May in der Nacht auf Freitag.

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May wollte sich mit der Neuwahl Rückenwind für die „Brexit“-Verhandlungen sichern
Vorsprung verspielt
Nach Auszählung von mehr als 649 der 650 Wahlkreise lagen die Torys mit 318 Sitzen voran. Labour konnte Zugewinne verbuchen und kam auf 261 Sitze. Verluste musste dagegen die SNP hinnehmen und kam auf 35 Sitze. Die Liberaldemokraten dürften dagegen nach ihrem Zusammenbruch 2015 wieder leicht zugelegt haben und mit zwölf Mandaten rechnen. Sie kämpfen als einzige landesweite Partei für den Verbleib in der EU.
Die Partei der nordirischen Protestanten (DUP) kam auf zehn Sitze. Die UKIP verlor den Prognosen zufolge ihren einzigen Sitz im britischen Unterhaus. Bei der vorangegangenen Wahl im Jahr 2015 hatten die Torys mit 330 Sitzen die absolute Mehrheit errungen. Labour holte damals 232 Sitze. Die SNP war mit 56 Sitzen drittstärkste Kraft. Die Liberaldemokraten hatten acht Sitze.

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Als May im April die Neuwahl ausgerufen hatte, hatte noch ein überragender Sieg mit einem Zugewinn von 100 Sitzen für die Torys als wahrscheinlich gegolten. Fehler im Wahlkampf hatten sie aber in Bedrängnis gebracht. Die Premierministerin löste einen Streit über geplante finanzielle Einschnitte bei Pensionisten aus und verweigerte gemeinsame Fernsehduelle mit Corbyn. Nach den Terroranschlägen in London und Manchester geriet May unter Druck, weil in ihrer Amtszeit als Innenministerin fast 20.000 Polizeistellen gestrichen worden waren. Corbyn versprach hingegen 10.000 zusätzliche Polizisten.
„Hung parliament“ zuletzt 2010
Mit May als Premierministerin müsste sich die EU auf harte „Brexit“-Verhandlungen einstellen, mit denen Brüssel schon am 19. Juni beginnen will. May hatte gesagt, Großbritannien werde die EU eher ohne Einigung verlassen, als einen „schlechten Deal“ zu akzeptieren. May hatte das Amt der Regierungschefin im vergangenen Jahr von David Cameron übernommen, nachdem eine knappe Mehrheit der Briten in einem Referendum für den „Brexit“ gestimmt hatte.
Adrowitzer: May unter Druck
Theresa May hat für Freitagvormittag eine Erklärung angekündigt. Ob es sein kann, dass May ihren Rücktritt ankündigt, weiß ORF-Korrespondent Roland Adrowitzer.
Auf Großbritannien könnte eine komplizierte und möglicherweise langwierige Regierungsbildung zukommen. Ein Unterhaus ohne Partei mit absoluter Mehrheit („hung parliament“) gilt in der britischen politischen Tradition als nicht wünschenswert. Zuletzt war das nach der Wahl 2010 der Fall. Damals bildeten die Konservativen mit den Liberaldemokraten eine Regierungskoalition.
Corbyn will Minderheitsregierung bilden
Corbyn strebt eine Minderheitsregierung unter Labour an. Wegen der Sitz- und Stimmengewinne sei seine Partei die Wahlsiegerin, sagte er. Man sei bereit, dem Land zu dienen. Die Gespräche über den EU-Austritt Großbritanniens müssten weitergehen, sagte Corbyn. Wenn keine Minderheitsregierung oder Koalition möglich ist, könnte neuerlich gewählt werden.
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