Wie geht Gemeinschaft?
Die Gesellschaft befindet sich zwischen Erosion und Aufbruch, so der Befund der Kunsthalle Wien, die mit der Ausstellung „How To Live Together“ die Frage hinsichtlich des Zusammenlebens in einer globalisierten Welt stellt und mit Werken von knapp drei Dutzend Künstlern die Räumlichkeiten sehr bunt, sehr weit blickend und höchst kurzweilig bespielt.
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Die Ausstellungsarchitektur von „How To Live Together“ ist bereits ein deutlicher Hinweis auf die große Klammer, die in der Kunsthalle Wien geschlossen werden will. Große, aus schwarzem Kunststoff gefertigte Ausstellungsmöbel bestimmen als zentrale Elemente weite Teile beider Ebenen der heuer größten Schau der Kunsthalle Wien. Die stufenförmig gestalteten Objekte sind an und für sich als Sitzgelegenheit gedacht, damit Besucher ihre Blicke auf die zahlreichen Videoarbeiten werfen.
Aber sie beziehen sich in ihrer Gestaltung auch auf die griechische Agora - den zentralen Versammlungs- und Marktplatz in den Städten des antiken Griechenlands, wo auch die Gerichtsbarkeit zu Hause war, doch wo in erster Linie ausdiskutiert wurde, wie das Zusammenleben in einer Gemeinschaft funktioniert –, Sternstunden der Demokratie und der Sockel für jede Form von kollektiver Identität. „How To Live Together“ versteht sich ebenso als eine Art Agora und bietet Besuchern Denkanstöße in viele Richtungen.

Stephan Wyckoff
Goshka Macugas sprechender Android kennt sich mit Kant und Nietzsche ebenso aus wie mit Frankenstein und Kubrik
Das Individuum und das Kollektiv
Die von Kunsthallen-Direktor Nicolaus Schafhausen kuratierte Ausstellung übt sich dabei aber weniger in allzu fantastischen Utopien, was Systeme und Strukturen der Zukunft betrifft, sondern greift zutiefst persönliche künstlerische Ansätze auf, die aber im Kern sehr wohl vom Zusammenleben in der Gemeinschaft erzählen – das eine bedingt das andere. „How To Live Together“ bietet individuelle Geschichten und Schicksale, die eng mit dem Kollektiv verknüpft sind, und die vor allem neue Perspektiven schaffen sollen.
Der Roboter als Philosoph
Ausstellungshinweis
„How To Live Together“ ist von 25. Mai bis 15. Oktober 2017 in der Kunsthalle Wien zu sehen.
Vermittlungsarbeit in Sachen menschlicher Bedürfnisse leistet in der Kunsthalle eine Menschmaschine: Die Arbeit „To the Son of Man who Ate the Scroll“ der in London lebenden polnischen Künstlerin Goshka Macuga in Form eines lebensgroßen Androiden, der auf einer runden Bank sitzt, ist zentrales Werk der Schau – ein Hybrid aus Schaufensterpuppe und Roboter, der sich nicht nur darin übt, große Philosophen und Denker von Immanuel Kant über Friedrich Nietzsche und Albert Einstein bis hin zu Sigmund Freud, Hannah Arendt und Martin Luther King mit bemerkenswerter Mimik und vertrauenerweckenden Blicken zu rezitieren.
Der bärtige Android zitiert genauso aus Mary Shelleys „Frankenstein“ wie aus „2001: Odyssee im Weltraum“ und aus „Blade Runner“. Es geht um Liebe und Hass, die Überwindung des Glaubens an Gott und um Macht und Technologie. Und der Roboter weiß um sein Selbstverständnis Bescheid: Künstliche Intelligenz sei die logische Entwicklung der antiken Erinnerungstechniken und leite in ihrer Konsequenz ein neues Zeitalter ein, in dem tradierte Konzepte von Geschichte, Sterben, Schöpfung, Sehnsucht und Geschlecht nicht
länger existieren, tönt es sinngemäß aus der Menschmaschine und sie trifft damit den inhaltlichen Kern der Ausstellung von Erosion und Aufbruch.

Shamil Gadzhidadaev
Taus Makhacheva: „19 a Day“, so viele Hochzeiten
Britische 1980er Tristesse
Gesellschaftliche Erosion ganz anderer Art zeigt sich in einer Fotoserie an der Wand hinter dem Androiden. Der britische Fotograf Paul Graham hat die Tristesse britischer Arbeitsämter in den frühen 1980er Jahren dokumentiert, als zehn Millionen Briten aufgrund großer wirtschaftlicher Umbrüche auf staatliche Unterstützung angewiesen waren. Graham hat dabei ein genaues Auge auf die Architektur und auf die Menschen geworfen. Seine Bilder zeugen von Menschen, die verwaltet werden und denen jegliche Perspektive abhandengekommen ist, aber auch von der Symbolik der Geringschätzung ganzer Bevölkerungsgruppen. Bilder, die Eindruck hinterlassen und heute nahe wie schon lange nicht mehr wirken.
Die Sippe in einem Auto
Einen sehr unmittelbaren Eindruck weiß auch der junge tschetschenische Künstler Aslan Gaisumov zu vermitteln. Zerfall, Um- und Aufbruch haben auch sein Leben bestimmt. Der 1991 in Grosny Geborene musste mit seiner Familie infolge der Bombardierung seiner Heimatstadt im Jahr 1995 schlagartig flüchten. Zwanzig seiner Verwandten zwängten sich mit ihm in einen Pkw, um Tschetschenien zu verlassen.
Gaisumov hat in seiner vierminütigen Videoarbeit „Volga“ reinszeniert, was damals geschehen ist und lässt 21 Menschen auf einer Wiese in Tschetschenien in eine alte Klapperkiste steigen. Die Arbeit korrespondiert mit einem weiteren Werk Gaisumovs, das die Vertreibung der tschetschenischen und inguschischen Bevölkerung durch Stalin thematisiert.
Die Hochzeitscrasherin
„How To Live Together“ sucht auch das Verbindende und findet es in der russischen Stadt Machatschkala, einer Hochzeitsmetropole mit bis zu 60 Hochzeiten am Tag. Die russische Künstlerin Taus Makhacheva hat sich als Hochzeitscrasherin betätigt und sich an einem Tag mit 19 Brautpaaren und Gesellschaften zwecks gemeinsamer Inszenierung zusammengetan und zeigt sich ähnelnde Rituale inmitten gelebter Diversität. Abzüge der inszenierten Hochzeitsfotos können Besucher der Ausstellung mit nach Hause nehmen.
Oder die grandiose Installation des belgischen Künstlers Kasper De Vos, der sich mit „Native Kitch and Spiritual Ravers“ genauso von den Charakterköpfen des österreichischen Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt (1734 - 1783) wie von den Protagonisten der 1990er Jahre Techno-Subkultur der Gabber beeinflussen ließ und damit zeigt, dass zwar die Jahrhunderte, aber nicht die Menschen weit auseinander liegen.
Ich bin dann mal weg
Die Ausstellung blickt mit den Fotos von August Sander (1874-1964) ebenso in die Vergangenheit. Sander gilt als einer der wichtigsten Vertreter der neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre. Seine Typologie der Menschen des 20. Jahrhunderts macht einstige gesellschaftliche Hierarchien sichtbar und beeindruckt in der Kunsthalle auch durch die Hängung.
Ebenso werden radikale Gegenbeispiele geboten, was das generelle Bedürfnis nach Gesellschaft anbelangt. Der aus den Niederlanden stammende Künstler Bas Jan Ader machte das Verschwinden zum zentralen Thema seines künstlerischen Werkes. In vielen Videos inszenierte er sein eigenes Verschwinden, so wie im Video aus dem Jahr 1972, das in der Ausstellung zu sehen ist. Drei Jahre später ist Ader beim Versuch, mit einem kleinen Boot von den USA nach Europa zu segeln, verschollen. Lediglich das Boot wurde Jahre später gefunden. Ob letzte große Inszenierung oder tragisches Unglück – man weiß es nicht.
Undogmatische Gesellschaftsanalyse
„How To Live Together“ versammelt insgesamt Werke von knapp drei Dutzend internationalen Künstlern und setzt auf Installationen ebenso wie auf Fotoarbeiten und Film und weiß damit den Raum in jeglicher Hinsicht zu füllen. „How To Live Together“ vollzieht viele Perspektivenwechsel, verleitet dazu Geschichte anders zu denken und gerät trotz des sehr offenen Themas nie in Gefahr in Beliebigkeit abzugleiten. Dafür garantiert allein die Vielzahl an sehr starken und aussagekräftigen Arbeiten, die nicht nur dem Grundanspruch der Ausstellung mehr als gerecht wird, Gesellschaftsanalyse sein zu wollen, sondern auch den Anspruch erfüllt, zur Empathie anregen zu wollen.
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Johannes Luxner, für ORF.at