Entspannung, aber kein Ende der Krise
Seit der Parlamentswahl 2014 schon steckt Mazedonien in einer tiefen politischen Krise - nun zeichnet sich erstmals Entspannung ab: Nachdem sich Präsident Djorge Ivanov monatelang geweigert hatte, den Chef der Sozialdemokraten, Zoran Zaev, mit der Regierungsbildung zu beauftragen, lenkte er nun doch ein. Ein Ausweg aus der Staatskrise bahnt sich aber noch nicht an.
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„Damit ist das meiste natürlich nicht getan“, sagt der Politologe und Balkan-Experte vom Österreichischen Institut für Internationale Politik (ÖIIP) Vedran Dzihic im Gespräch mit ORF.at. „Jetzt wird sich zeigen, ob Gruevski und die alten Kräfte noch mal alles daran setzen, um Zaev auszubremsen und die Teilung der Gesellschaft zu vertiefen.“

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Gruevski: Vom liberalen Modernisierer zum nationalistischen Autokraten
Drei Jahre lang dauerte der kompromisslose Machtkampf zwischen der nationalkonservativen Partei VMRO-DPMNE des ehemaligen Premiers Nikola Gruevski und Zaevs Sozialdemokraten an. Nachdem 2015 Tonbandaufnahmen auftauchten, die den systematischen Amtsmissbrauch durch den langzeitregierenden Gruevski und sein Umfeld nahelegten, spitzte sich die Lage in dem labilen Vielvölkerstaat zu. Die EU und USA griffen ein und vermittelten einen politischen Neustart.
Situation eskalierte
Doch die vorgezogene Neuwahl im Dezember ließ die Lage weiter eskalieren. Die VMRO-DPMNE wurde zwar erneut stärkste Partei, fand aber keine Koalitionspartner. Stattdessen schlossen sich die Sozialdemokraten (SDSM) mit drei Albaner-Parteien zusammen, Präsident Ivanov, der der VMRO-DPMNE angehört und ein Gefolgsmann Gruevskis ist, weigerte sich aber, SDSM-Chef Zaev mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Die wochenlangen Proteste gipfelten Ende April in einem Sturm auf das Parlament: VMRO-Anhänger prügelten auf Oppositionsabgeordnete und Journalisten ein, rund 100 Menschen wurden verletzt.
Vom Musterland zum Sorgenkind
Gruevski, der ab 2006 zehn Jahre lang an der Spitze der Regierung stand, profilierte sich einst als liberaler Modernisierer Mazedoniens. In den vergangenen Jahren führte er das Land aber zunehmend autoritär und stülpte ihm eine nationalistisch-mazedonische Ideologie über. Aus Mazedonien, einstige große Hoffnung der EU und seit 2005 offizieller Beitrittskandidat, wurde inzwischen das Sorgenkind auf dem Westbalkan, das die Stabilität der gesamten Region bedroht.
Um das Land zu vereinen, brauche es nun Zeit und vor allem „positive Rahmenbedingungen“, sagt Dzihic. Die Frage sei aber, „ob es – angesichts der Größe der Probleme und der Schwäche der EU - überhaupt möglich ist, solche zu schaffen“. Der Politologe sieht nicht zuletzt die Rolle der EU als Mitgrund für die Krise.
Die Rolle der EU
Nachdem 2001 in der gesamten Balkan-Region ein europäischer Integrationsprozess einsetzte, wurde dieser aufgrund des Namensstreits mit Griechenland in Mazedonien 2007 auf Eis gelegt. Mit Athen gibt es seit Langem den Konflikt um die griechische Provinz Makedonien, Athen fordert eine Umbenennung Mazedoniens. 2008 legte es deshalb auch ein Veto gegen die Aufnahme Mazedoniens in die NATO ein. „Danach haben sich auch die innerstaatlichen Lagen zugespitzt“, sagt Dzihic. Gruevski holte mit der VMRO-DPMNE 2008 die absolute Mehrheit „und begann mit dem schleichenden autoritären Umbau des Landes“.
„Stabilitätspolitik“ der EU scheitert
Die Staatskrise in Mazedonien sei auch ein Beispiel dafür, sagt Politologe Dzihic, dass die „Stabilitätspolitik“ der EU auf dem Balkan - wo inzwischen ausschließlich autoritäre Kräfte an der Macht sind - zu scheitern beginne. Auch Balkan-Experte Florian Bieber sagt, westliche Regierungen und Institutionen müssten erkennen, dass ihr Konzept, „Stabilokraten“ als Partner zu akzeptieren, nicht funktioniere. Der Politologe leitet das Zentrum für Südosteuropastudien an der Karl-Franzens-Universität in Graz.
„Einige EU-Mitglieder, darunter Deutschland und Österreich, haben zu lange unkritisch auf lokale Autokraten wie Gruevski und Serbiens Präsidenten Aleksandar Vucic gesetzt, weil sie ihnen Stabilität und Kooperation in entscheidenden Sicherheitsfragen anbieten“, sagt Bieber gegenüber ORF.at. „Dafür wurde der Abbau von Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit bereitwillig übersehen.“
Kurz bei Gruevski
Gruevski, bisher einer der mächtigsten politischen Akteure auf dem Westbalkan, spielte etwa im Zuge der Flüchtlingskrise eine bedeutende Rolle in der Schließung der Balkan-Route. Im November dankte es ihm Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) mit einem Besuch einer Wahlkampfveranstaltung der VMRO-DPMNE.

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Nun doch: Ivanov (r.) erteilte Zaev (l.) Regierungsbildungsauftrag
„Diese Machthaber produzieren aber bestenfalls nur kurzfristig Stabilität“, sagt Bieber. Langfristig würden sie von der ständigen Krise leben, um sich sowohl externe Legitimität zu sichern als auch im eigenen Land die Opposition zu untergraben und über das Scheitern ihrer Wirtschaftspolitik hinwegzutäuschen. „Somit sind die ‚Stabilokraten‘ Brandstifter und Feuerwehrmänner in einem.“
In der Mazedonien-Krise habe die EU lange Zeit zu passiv agiert, sagen die Politologen. Erst der kürzlich aufgebaute Druck der EU und vor allem der USA ließen Präsident Ivanov schließlich einlenken. Es brauche in Zukunft mehr Präsenz von EU-Außenbeauftragter Federica Mogherini und EU-Kommissar Johannes Hahn (ÖVP) etwa, sagt Dzihic vom OIIP. Hahn ist als Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen für die Balkan-Region zuständig.
Zwischen Russland und EU
Mit dem Stillstand der EU-Erweiterungspolitik auf dem Balkan sei die Kritik lauter geworden, „dass sich die EU eigentlich nicht für diesen Bereich interessiert“, sagt Dzihic. „Damit werden auch die Anreizmechanismen der politischen Eliten auf dem Westbalkan, sich an der EU zu orientieren, geringer.“
Und das schafft Raum für das Einwirken anderer politischer Kräfte: Russland bemüht sich seit Langem um Einfluss auf dem Balkan, auch Gruevski gilt als prorussisch. „Natürlich hat Russland den Balkan-Ländern wenig anzubieten“, sagt Bieber. „Aber es nutzt seinen Einfluss, um Bemühungen der EU zu untergraben und Netzwerke zu schaffen.“
Scheinreformen
Die politischen Eliten auf dem Balkan geben sich zugleich nach wie vor proeuropäisch, „weil es ihre Bevölkerung so will und weil Anerkennung im Westen prestigeträchtig ist“, sagt Bieber. „Aber nicht wegen der Werte.“ Formal haben sie Anforderungen der EU umgesetzt, in der Praxis würden sie diese jedoch umgehen. „Natürlich wissen das auch viele EU-Experten, aber auf politischer Ebene fehlt bisher die Bereitschaft, auch öffentlich Kritik zu äußern, aus Angst, die Autokraten zu verstoßen.“
Die Idee vom Großalbanien
In der angespannten Balkan-Region, die untereinander stark vernetzt ist, zeige sich mit dem Rückzug der EU nun eine neue Dynamik, sagt Dzihic. „Entwicklungen in einem Land werden in einem anderen rhetorisch verbraten, um die eigene Herrschaft abzusichern.“ Vucic in Serbien zog etwa den brutalen Parlamentsangriff in Mazedonien als Warnung vor separatistischen Tendenzen im eigenen Land heran.
Und während in den vergangenen Wochen die größte serbische Boulevardzeitung „Informer“, die als Vucic-nahe gilt, mehr als zehnmal das Wort „Krieg“ in Zusammenhang mit der Krise in Mazedonien am Titelblatt hatte, sinnierten etwa Albaniens Premier Edi Rama und der kosovarische Präsident Hashim Thaci öffentlich über ein Großalbanien. Diese Idee eines Zusammenschlusses der albanischen Volksgruppen auf dem Westbalkan wird auch in Mazedonien politisch instrumentalisiert. Albaner bilden die größte Minderheit in Mazedonien und machen etwa ein Viertel der insgesamt rund zwei Millionen Einwohner aus.
Ivanovs Behauptung sei „Unsinn“
Auch Präsident Ivanov, der ein enger Vertrauter Gruevskis ist, begründete seine monatelange Weigerung, Zaev ein Regierungsmandat zu erteilen, bisher damit, dass die Koalition aus den Sozialdemokraten und albanischen Parteien eine Spaltung des Landes anstreben würde. Die gleichberechtigte Einführung von Albanisch neben Mazedonisch war die Bedingung für die Beteiligung der Albaner-Parteien an der neuen Regierung.

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Seit Monaten finden Pro- und Anti-VMRO-Proteste in Skopje statt
„Das zu behaupten ist sicherlich Unsinn“, sagt Bieber. „Natürlich wünschen sich viele Albaner theoretisch ein Großalbanien, doch für die wenigsten ist es ein politisches Projekt, für das man die Unterstützung des Westens riskiert oder einen Krieg vom Zaun bricht.“
Kampf um Machterhalt
Ivanov sei es bei der Regierungsblockade vor allem um den Machterhalt und Schutz seiner Partei gegangen. Ohne Immunität und Einflussmöglichkeiten müssen Gruevski und seine engsten Mitarbeiter Gefängnis fürchten. Eine von der EU vermittelte Sonderanwaltschaft wirft ihnen neben der Bespitzelung Zehntausender unbescholtener Bürger schwere Kriminalität, Korruption und die Gängelung von Medien und Justiz vor.
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Christina Pausackl,ORF.at