Warum Macron jetzt auf eine Karte setzt
Seit einer knappen Woche nun ist Frankreich mit mehr oder weniger Begeisterung „en marche“. Vielleicht auch in eine politisch veränderte Zukunft. Einiges ist anders, seit der frühere Wirtschaftsminister zum Präsidenten gewählt wurde. Anders ist vor allem, dass sehr viele Entscheidungen, die von Tragweite für das ganze Land sind, tatsächlich nicht aus dem kleinen Kreis rund um den designierten Staatschef dringen. Etwa, wer Premier wird. Oder wer im Parlament mitmachen darf beim Versuch, eine parlamentarische Mehrheit zu bekommen.
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Bis Ende kommender Woche müssen die Kandidaten, die bei der Parlamentswahl am 11. und 18. Juni antreten, erklären, in welchem Wahlkreis sie ins Rennen gehen.
577 Abgeordnete hat die französische Assemblee nationale in der ersten Kammer - und für jeden Abgeordneten gibt es einen Wahlkreis. Darunter auch Wahlkreise für die französischen Überseegebiete (Territoire d’outre-mer) und auch für die Auslandsfranzosen. Wer einen Wahlkreis nach dem Mehrheitswahlrecht holt, sitzt in der Assemblee. Eigentlich unbenommen des Umstandes, für welche Partei er kandidiert. 289 Mandatare braucht man für eine politische Mehrheit.
Macrons komplizierte Rechnung
Doch hier fängt die komplizierte und taktisch fein auszutarierende Sache für die ins Wanken geratenen französischen Parteien an - und hier setzt auch der Politpoker für Macron an, bei dem er sich möglichst wenig in die Karten schauen lassen darf. Bei einer derart hohen Zahl an Wahlkreisen will man sich nicht mit zu vielen Kandidaten aufreiben. Und hier kommen in einem ersten Aspekt die Parteien ins Spiel. Zerfleischen sie sich in zu vielen der kleinen Wahlkreise, „verbrennen“ sie ihr Personal (und auch die Chance, die wichtigen Finanzmittel für die eigene Partei zu holen).
Insofern muss Macron, wenn er jetzt die Zivilgesellschaft aufruft, für seine neu gegründete Partei La Republique en Marche zu kandidieren (wofür sich in einem komplizierten Anmeldevorgang immerhin 16.000 Personen gemeldet haben), vor allem auf Wahlkreise setzen, die für ihn als „holbar“ erscheinen. Bis jetzt wurden 428 Kandidaten zur Wahllisteneintragung genannt. Macron will sich eine Mehrheit möglichst für seine eigene Partei holen und nicht auf Gutwillige aus anderen Lagern vertrauen müssen. Und das hat einen anderen wichtigen Grund für ihn.
Das Tauziehen um die Finanzen
Die neue Partei benötigt Geld: In einem zweistufigen Verfahren beruht die französischen Parteienförderung wesentlich auf dem Ergebnis der Parlamentswahl (was private Zuwendungen betrifft, sind diese in Frankreich auf 750 Euro pro Person und Jahr an eine Partei begrenzt). Eine Tranche der Parteienförderung richtet sich, vereinfacht gesagt (denn wie immer ist alles dann doch im Detail durchaus kompliziert wie überreguliert in der „Grande Nation“), nach dem Prozentualergebnis von Runde eins, wo man ab zwei Prozent der Stimmen in die Förderungswürdigkeit kommt.
In der zweiten Tranche der Parteienförderung zählen dann das Stichwahlergebnis des Wahlkreises und die Zahl der Mandatare, die eine Partei auf ihre Seite verbuchen kann.
Wer bisher wie viel Geld bekommen hat
So haben die französischen Sozialisten als bisher stimmenstärkste Fraktion 2015 knapp 25 Mio. Euro aus beiden Tranchen erhalten, die Konservativen (hier noch als UMP geführt) über 18 Mio. Euro. Zum Vergleich: Der Front National kommt auf knapp fünf Millionen Euro und erhält seine Finanzierung wesentlich aus dem Topf eins (hat aber durch das Mehrheitswahlrecht nur zwei Abgeordnete in der Assemblee nationale).
Woche mit überraschend wenigen Nebengeräuschen
In den ersten Tagen seit der Wahl konnte Macron seine Bewegung auf sehr verschwiegenem Kurs halten. Der Umbau zur regulären Partei mit neuem Namen und neuer Parteichefin funktionierte am Montag beinahe geräuschlos. Alle weiteren Abstimmungsprozesse trifft er im kleinen Kreis.
Der kühle Umgang mit Manuel Valls
Dass Ex-Premier Manuel Valls gleich nach der Wahl aus der Deckung ging und sich als Kandidat „für die Präsidentenmehrheit“ zur Verfügung stellte, kommentierte man zuerst kühl und ließ eine endgültige öffentliche Positionierung ein paar Tage abliegen. Valls erfülle nicht den Forderungskatalog, ein Abgeordneter für La Republique en Marche zu sein; aber man würde nicht gegen ihn in seinem Wahlkreis antreten, war dann die salomonische wie taktische Lösung, ohne sich eine politische Blöße zu geben. Das heißt für Valls: Er „darf“ Macron unterstützen, wird sich aber seine politische Heimat selbst definieren müssen - denn den in Katalonien gebürtigen Politiker will nun auch die Sozialistische Partei (PS) nicht mehr haben.
Auch die Gegner suchen nach klaren Linien
Auch alle politischen Konkurrenten versuchen in diesen Tagen für Klarheit zu sorgen. Wer „en marche“ Richtung La Republique en Marche bzw. Macron-Lager sei, der könne leider nicht mehr Mitglied der Partei sein, richtet man vonseiten der Republicains an Abtrünnige aus. Adressaten für solche Botschaften sind etwa der ehemalige französische Landwirtschaftsminister und Diplomat Bruno Le Maire, der als Erster von den Republikanern erklärte, „bereit für eine Zusammenarbeit für Macron“ zu sein.
Alain Juppe, Politschwergewicht seiner Partei, spielt das Match subtiler: Er werde „keine Fundamentalopposition“ zu Macron betreiben und sendet somit ein Signal in Richtung konstruktiver Zusammenarbeit. Aber möglicherweise ist hier weniger Macron Adressat als seine eigene Partei, die zwischen konservativer Hardliner-Position und gesellschaftlicher Mitte zerrissen scheint.
Eine interessante Spielerin im Lager der Konservativen ist Nathalie Kosciusko-Morizet. Die ehemalige Ministerin und unterlegene Bürgermeisterkandidatin der Konservativen in Paris setzt deutlich auf die konstruktive Mitte und war gemeinsam mit Jean-Pierre Raffarin bereit, mit linken Politpromis und Intellektuellen am Vorabend der Wahl zur klaren Stimme für Macron und gegen Marine Le Pen aufzurufen. Sie gilt als eine der politischen Querverbinderinnen in Richtung Macron.
Macron selbst könnte am Sonntag das Geheimnis um den Premier oder eben die Premierministerin lüften. Vor der Wahl sagte er, dass er den Namen und die Person wüsste. Auf dem Radiosender Europe 1 hatte er sogar eine Nennung zur Mitte der Woche durchblicken lassen. Es könnte durchaus eine Frau sein, die er am Sonntag als Namen aus dem Hut zaubert.
Heikle Mission: Premierminister
Die Aufgabe ist nicht undelikat: Macron will eine Kandidatin oder einen Kandidaten aufstellen, die oder der politische Erfahrung mitbringt, nicht „altes Establishment“ ist - und dessen politisches Überleben vielleicht nur ein paar Wochen hält. Insofern gilt auch in Frankreich: Wer Änderungen will, kommt ohne den hohen Poker nicht aus.
„Republicains, die ins Lager von Macron wechseln, wollen einen guten Job“, kommentierte am Freitag Francois-Xavier Bourmaud vom „Figaro“ den Umstand, dass noch keine Kandidaten aus dem konservativen Lager „den Rubikon“ Richtung Macron überschritten hätten. Jetzt mögen ja die Kandidatinnen aus der Zivilgesellschaft im Rampenlicht stehen (die noch alle paritätisch zwischen Männern und Frauen aufgeteilt sind). Überläufer wollten aber wissen, wer denn der mögliche Premier ist, bevor man sich komplett zur Fahnenflucht entscheide.
„Er setzt auf die Explosion der Altparteien“
„Macron“, so Bourmaud, „wolle zwar nach seinen Worten eine ‚Neuzusammensetzung der politischen Landkarte Frankreichs‘. Weniger diplomatisch ausgedrückt heißt das aber: Er setzt auf eine Explosion bei den Republicains und Sozialisten.“ Ob ihm aber vor allem die Konservativen so rasch diese Freude bereiten, bleibt abzuwarten. Viele von ihnen könnten sich mit dieser Wahl noch über die rettende Mandatslinie für ihre Altpartei schleppen.
In anderen Lagern sortiert man sich noch elementarer. Die Sozialisten unter Benoit Hamon steuern wohl einem Ergebnis entgegen, bei dem man 40 statt bisher 283 Abgeordnete erwarten kann. Der Front National ist wiederum derart in inneren Debatten gefangen, dass man optimistische Umfragen, der FN könne diesmal sogar mit 30 bis 40 Abgeordneten rechnen, eher in den Bereich der optimistischen Annahme einordnen muss.
Und schließlich wäre da noch Jean-Luc Melenchon. Er könnte, durch sein gutes Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl in Marseille, in der südfranzösischen Metropole antreten. Ein Move, der ihm im linken Lager viel Kopfschütteln einbringt. Ob Melenchon nun die lokale Linke mit seinem Antreten zerstören wolle, rätseln etwa Frankreichs Grüne.
Die Frankreich-Wahl und die Folgen für Europa
Harald Vilimsky (FPÖ), Christoph Schiltz („Die Welt“), Birgit Sippel (SPD) und Gerald Heidegger (ORF Online) über Macrons Wahl, Internetkampagnen zur Politikbeeinflussung und Grenzkontrollen im Schengen-Raum.
Sonntag als erster Wendepunkt
Ab Sonntag wird sich möglicherweise mancher Nebel um die Geheimniskrämerei der Politik Macrons lüften. Von seinen ersten offiziellen Ansagen als Präsident sollen Signale ausgehen. Innen- wie außenpolitisch. Auch gegenüber der deutschen Kanzlerin, die Macron am Montag besucht.
Möglicherweise fürchtet sich Macron aber auch vor einer allfälligen Cohabitation weniger als viele Kommentatoren. Der Premier (von Gnaden des Präsidenten) kann zur Durchsetzung seiner Vorhaben auch gegen die parlamentarische Mehrheit den Joker des Paragrafen 49.3 ziehen. Ein Schachzug, den Macron kennt. Zuletzt war es sein politischer Widersacher Valls, der mit diesem Paragrafen die Arbeitsmarktreform gegen Teile der eigenen Fraktion durchziehen wollte. Autor der Reform damals: ein gewisser Emmanuel Macron.
Links:
Gerald Heidegger, ORF.at, Paris/Brüssel/Agenturen