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Hinschauen und zuschlagen

Das Kremser Donaufestival zeigt sich in seinem ersten Jahr nach dem Intendantenwechsel von seiner besten Seite. Das Motto: nur keine falsche Scham. Hinschauen und zuschlagen, ganz, wie es die Lust gebietet.

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Früher wäre das ein Aufreger gewesen: Dutzende nackte Menschen, die in einer Kirche ekstatisch zu moderner Musik tanzen und einander betatschen. Die Dominikanerkirche ist keine Kirche mehr, und die Tage, ihn denen so etwas als Tabubruch galt, sind längst vorbei. Heute ist das Skandalon ein anderes: echte Menschen, manche alt, manche jung, manche dick, manche mager, manche sportlich, manche nicht, mit großen oder flachen Brüsten, kleinen oder großen Penissen.

Doris Uhlich: Habitat

David Visnjic/donaufestival

Doris Uhlichs „Habitat“ in der Kremser Dominikanerkirche

Ist das dem ästhetischen Empfinden einer Gesellschaft mit photoshopverbildetem Blick überhaupt noch zumutbar? Ja, ist es - die Performance „Habitat“ von Doris Uhlich entwickelt sogar außerordentliche Schönheit. Eine alte Frau, die mit Bauch und Brüsten wackelt, minutenlang, mitten im leergeräumten Kirchenschiff, die Augen starr, aber nicht unfreundlich nach vorne gerichtet. Es ist befreiend, sie so zu sehen. Von wegen „Verfall“: Hier steht ein Mensch, in all seiner Körperlichkeit, all seiner Normalität, und nichts daran wirkt so, als ob man sich vor dem Altwerden fürchten müsste.

Statistik der Körperwelten

Von den geschätzt 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Performance würden es vielleicht vier oder fünf auf ein Magazincover schaffen. Schon diese Statistik lässt unweigerlich die Frage aufkommen: Und die anderen 80 Prozent sollen sich für ihren Körper genieren? So entwickelt sich neben der Freude an der natürlichen Schönheit auch so etwas wie Trotzhaltung, und am liebsten würde man sich selbst die Kleider vom Leib reißen - in der nahe gelegenen Fußgängerzone, wo nicht nur das Kunstvolk hinschaut.

Macht kaputt, was euch kaputt macht

Solchermaßen von Komplexen befreit, muss man sich noch seiner Wut über das Body-Shaming, das in der Welt außerhalb des Donaufestivals weit verbreitet ist, entledigen. Da kommt Stephane Roys „The Laboratory of Anger Management“ gerade richtig. In einem Container wird eine Wohnlandschaft aufgebaut. Festivalbesucher dürfen sich jeweils 30 Sekunden lang mit einem Baseballschläger bewaffnet an die Zerstörung machen. Was in den unscheinbarsten Menschen steckt!

Stephane Roy: The Laboratory of Anger Management

David Visnjic/donaufestival

Nur keine Zurückhaltung: „The Laboratory of Anger Management“

Wahren Berserkern gleich dreschen sie auf Glastische, Nachkästchenlampen und Stereoanlagen ein, bis außer ein paar Splittern nichts mehr übrig ist und das improvisierte Wohnzimmer neu aufgebaut werden muss. Interessant ist der Effekt, der sich dabei einstellt: Die Performance macht nicht Angst vor der Gewaltlust einzelner Individuen, sondern man freut sich mit ihnen über - wieder - die Befreiung, die ganz offensichtlich mit dem brachialen Zerstören von heimeligen Konsumlandschaften einhergeht.

Wenn die Schädelknochen schwingen

Eine ganz besondere Körpererfahrung bietet auch Volkmar Klien mit seiner, wie er im Gespräch mit ORF.at sagt, „nicht sehr effizienten“ Performance. Damit meint er, dass jeweils nur eine einzige Person zwanzig Minuten lang zu ihm in die sakrale Kammer der Minoritenkirche hinabsteigen darf - insgesamt hat also nur eine Handvoll Festivalbesucher etwas davon, die aber dafür umso mehr. Klien ist Komponist, und er bietet in seinen „Rezeptionshaltungen“ eine ungewöhnliche, unmittelbare Musik- und Körpererfahrung.

Volkmar Klien: Rezeptionshaltungen - Koppelungen

Volkmar Klien

Volkmar Klien bringt die Schädelknochen zum Schwingen

Klien setzt dem Besucher in einer speziellen Apparatur Metallstäbe rundherum an den Schädel, die den Schall eines Konzerts direkt in die Knochen überträgt, sie also zum Schwingen bringt. Er selbst sitzt versunken am Keyboard und klimpert zu elektronischer Musik in die Tasten. Doch das Konzert - es scheint mitten im Kopf des Zuhörers stattzufinden. Plötzlich wird man sich seines Schädels bewusst. Die Erfahrung ist zunächst verwirrend, dann beglückend. Drei Stationen laden in Kliens Versuchsanordnung zum akustischen Perspektivenwechsels ein.

Die twerkende Miley Cyrus

Perspektivenwechsel ist auch das Thema von „Situation mit Doppelgänger“ von Julian Warner und Oliver Zahn. Der eine weiß, der andere schwarz, tanzen sie sich durch die Hegemonial- und Kolonialdiskurse vom Mistrel-Tanz des 19. Jahrhunderts bis zur twerkenden Miley Cyrus. Aus dem Off erklärt die Stimme Tinka Kleffners, worum es hier geht: Weiße, die sich schwarze Kultur aneignen und kommerziell nutzbar machen; Schwarze, die weiße Kultur imitieren. Gibt es diese schwarz-weiß-Unterschiede überhaupt? Gleichzeitig theoretisierend und überaus humorvoll tanzend wird dieser Frage nachgegangen.

Julian Warner & Oliver Zahn

David Visnjic/donaufestival

Julian Warner und Oliver Zahn: „Situation mit Doppelgänger“

Ebenfalls viel Humor beweist Ariel Efraim Ashbel samt seinen „friends“ mit seiner Performance „The Empire Strikes Back: Kingdom of the Synthetic“. Bühnenarchitektur als Requisit, das ständig neu angeordnet wird, posthumane Fabelwesen, die in fremden Zungen Reden schwingen, jede Menge popkultureller Anspielungen und, das Lustigste von allem: ein Publikum, das sich über die lustigsten Einlagen nicht zu lachen traut, weil es nichts falsch machen will.

Ariel Ephraim Ashbel and friends

David Visnjic/donaufestival

Erhabene Pose eines posthumanen Wesens: „The Empire Strikes Back: Kingdom of the Synthetic“

Frustrationsprävention

Von den genannten Performances werden am zweiten Donaufestival-Wochenende Volker Kliens Schädelknochenkonzerte und Stephane Roys Wohnzimmer-Zerstörungs-Container noch einmal zu sehen sein. Laut Klien am besten schon eine Stunde, bevor es losgeht, anstellen, um sich noch Plätze reservieren zu können. Überhaupt sind einige der am größten angekündigten Programmpunkte nur für einen sehr kleinen Teil des mittlerweile großen Publikums zugänglich, obwohl für den Tagespass alle zahlen müssen. Da könnte man sich für die Zukunft überlegen, ob die Frustration des überwiegenden Teils der Besucher dafürsteht oder ob sich dieses System nicht optimieren ließe.

Aber Schluss mit Raunzen, geraunzt wird auch so genug. Etwa unter Kulturbeflissenen hinter vorgehaltener Hand, dass nach dem Wechsel des langjährigen Donaufestival-Direktors Tomas Zierhofer-Kin zu den Wiener Festwochen diese zum zweiten Donaufestival werden. Es soll nichts Schlimmeres passieren. Was sich übrigens durch den neuen Intendanten Thomas Edlinger geändert hat, lässt sich schwer sagen, wenn man nur einen von fünf Tagen anwesend war.

Wiedersehensfreude

Er trat ja mit dem Anspruch an, den von Zierhofer-Kin eingeschlagenen, erfolgreichen Kurs weiterzuführen, jedoch für theoretisch-diskursive Vertiefungen zu sorgen. Cyborg- und Cyberfeminismus-Vordenkerin Donna Haraway einzuladen, war mit Sicherheit ein Coup in der entsprechenden Programmschiene. Von den Konzerten hat man Gonjasufi zwar beim Donaufestival schon gesehen, sieht ihn aber gerne wieder, und Wiedersehensfreude dominierte auch bei den Einstürzenden Neubauten und Scritti Politti.

Die Performances sind heuer auf dem Punkt. Man verlässt das Festivalgelände mit einem inneren Schlachtruf, der die Schädelknochen noch ein letztes Mal zum Schwingen bringt: Freiheit für den Körper!

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