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„Cordon sanitaire“ formiert sich

Die Kandidaten des Establishments haben die Franzosen am Sonntag aus dem Rennen gewählt, nun folgt das Duell zwischen den beiden völlig konträren „Außenseiter“-Kandidaten: Die seit Jahren in der Politik aktive Chefin des rechtsextremen Front National (FN), Marine Le Pen, fordert den nach der ersten Runde leicht voranliegenden Newcomer und Sozialliberalen Emmanuel Macron. Le Pen hat dabei, darin sind sich praktisch alle Beobachter einig, die deutlich schlechteren Karten.

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Siegesssicher gaben sich Sonntagabend naturgemäß beide - doch Le Pen ist wohl bewusst, dass sie vor einer ähnlich schwierigen Aufgabe steht wie ihr Vater Jean-Marie Le Pen. Dieser hatte 2002 völlig überraschend den Sozialisten Lionel Jospin auf Platz drei verwiesen - war in der zweiten Runde aber gegen den zur Wiederwahl angetretenen Amtsinhaber Jacques Chirac gescheitert.

Die Hürde, gegen einen amtierenden Präsidenten anzutreten, muss Marine Le Pen zwar nicht nehmen - aber auch diesmal dürfte die französische Politik eine weitgehend einheitliche Front gegen eine mögliche Präsidentschaft der Chefin einer rechtsextremen Partei bilden. In Frankreich hat diese „cordon sanitaire“ genannte Politik bisher die Übernahme wichtiger Ämter durch FN-Vertreter weitgehend verhindert - und das nicht nur auf zentralstaatlicher Ebene.

Wahlempfehlungen von allen Seiten

Noch Sonntagabend riefen die schwer geschlagenen Kandidaten der Konservativen und der Sozialisten, Francois Fillon und Benoit Hamon, ihre Anhängerschaft dazu auf, in der Entscheidungsrunde am 7. Mai gegen Le Pen und für Macron zu stimmen. Fillon begründete seine Unterstützung für Macron damit, dass Le Pen das Land ins Unglück führen würde. Hamon bezeichnete die „Auslöschung der Linken durch die extreme Rechte“ als eine schwere Niederlage und rief ebenfalls dazu auf, den FN mit Stimmen für Macron so deutlich wie möglich zu schlagen.

Auch der scheidende Präsident Francois Hollande rief die Wähler zur Unterstützung Macrons bei der Stichwahl in zwei Wochen auf. Frankreichs Platz in der Welt stehe auf dem Spiel. Die Rechtsextremen seien ein Risiko für das Land.

Emmanuel Macron

APA/AFP/Eric Feferberg

Macron erreichte im ersten Durchgang der Elysee-Wahl die meisten Stimmen

Melenchon noch zurückhaltend

Neben Fillon, Hamon und Hollande gaben hochrangige Politiker sowohl des konservativen als auch des sozialistischen Lagers eine Wahlempfehlung für Macron ab, der mit 39 Jahren der bisher jüngste Präsident Frankreichs werden könnte. Premierminister Bernhard Cazeneuve sagte, es gehe darum, den rechtsextremen FN zu schlagen und „sein unheilvolles Programm eines Rückschritts Frankreichs und der Spaltung der Franzosen“ zu verhindern. „Ohne zu zögern, unterstütze ich Emmanuel Macron in seinem Duell mit dem FN, der Frankreich ins Desaster führen würde“, so der konservative Ex-Premier Alain Juppe via Twitter.

Nur der - so wie Le Pen EU-feindliche - Linkskandidat Jean-Luc Melenchon hat sich offiziell noch nicht entschieden, ob er eine Wahlempfehlung aussprechen wird.

Ein Trumpf, der bisher nicht sticht

Freilich geht ein Teil der Anziehungskraft und des Erfolgs des FN gerade auf diese klare Abgrenzungspolitik der anderen Parteien zurück - Le Pen münzt es zum Anti-Establishment-Gütesiegel um. Es ist davon auszugehen, dass die FN-Chefin genau diese Karte in den nächsten zwei Wochen besonders oft ziehen wird. Gegen den politisch nicht im Establishment verankerten Macron konnte sie damit bisher aber nicht wirklich punkten.

Marine Le Pen

Reuters/Charles Platiau

Le Pen feiert vor ihren Anhängern den Einzug in die Stichwahl

Historisch bestes Ergebnis für FN

Tatsache ist, dass Le Pen in der ersten Runde nach der Zahl der Stimmen das beste Ergebnis in der Geschichte ihrer Partei erreichte. Nach fast vollständiger Auszählung stimmten mehr als 7,6 Millionen Franzosen für sie, wie das Innenministerium Montagfrüh auf seiner Website bekanntgab. Das sind deutlich mehr als die 6,8 Millionen Stimmen, die der FN landesweit in der zweiten Runde der Regionalwahl 2015 bekam - der bisherige Stimmenrekord der rechtsextremen Partei.

Macron kam nach fast vollständiger Auszählung der Stimmen dem Innenministerium zufolge auf 23,86 Prozent. Dahinter lag Le Pen mit 21,43 Prozent, gefolgt von Fillon mit 19,94 Prozent und Melenchon mit 19,62 Prozent. Bis Montagfrüh waren 97 Prozent der Stimmen ausgezählt. Es fehlten nur noch Stimmen von Auslandsfranzosen. Insgesamt waren rund 47 Millionen Franzosen zur Abstimmung aufgerufen. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 80 Prozent.

Macron: „Franzosen wollen Erneuerung“

Mit nur 6,35 Prozent landete Hamon abgeschlagen auf dem fünften Platz - das mit Abstand schlechteste Ergebnis für einen Sozialisten bei einer Präsidentschaftswahl in der Fünften Republik. Der amtierende sozialistische Präsident Francois Hollande gratulierte Macron in einem Telefonat zum Einzug in die Stichwahl. Der bei den Wählern unbeliebte Hollande hatte auf eine Kandidatur für eine zweite Amtszeit verzichtet.

Wahlsieger Macron ließ sich indes von seiner jubelnden Anhängerschaft feiern und sagte: „In einem Jahr haben wir das Antlitz der französischen Politik verändert.“ Er wolle mit einem System brechen, „das unfähig ist, auf Problem zu reagieren“. Eines seiner Ziele sei zudem der Neustart des „europäischen Projekts“.

Emmanuel Macron verlässt spät Abends ein Restaurant

APA/AP/Kamil Zihnioglu

Macron am Wahlabend nach einem Restaurantbesuch

Er wolle ein „Präsident der Patrioten gegen die Gefahr der Nationalisten“ sein, sagte Macron in seiner Siegesrede. Die Stärke seiner Unterstützer werde der Schlüssel dazu sein, wie er regieren werde, kündigte er an. Macron rief seine Anhänger in diesem Zusammenhang dazu auf, ihm die nötige parlamentarische Mehrheit zu verschaffen. Die von Macron gegründete Bewegung En Marche! ist in der französischen Nationalversammlung bisher nicht vertreten.

Le Pen: „Volk von arroganten Eliten befreien“

Le Pen sprach nach ihrem Einzug in die Stichwahl von einem „historischen Ergebnis“. „Es ist Zeit, das französische Volk von den arroganten Eliten zu befreien, die ihm sein Verhalten vorschreiben wollen“, sagte Le Pen vor ihren Anhängern. „Die Franzosen müssen diese historische Gelegenheit ergreifen“, sagte die weiterhin siegessichere FN-Chefin. Le Pen zufolge gehe es bei der Stichwahl um die Entscheidung zwischen der „totalen Deregulierung ohne Grenzen und ohne Schutz“ und „Grenzen, die unsere Jobs schützen, unsere Kaufkraft, unsere Sicherheit, unsere nationale Identität“.

Demonstranten laufen vor Tränengas-Granaten davon

APA/AP/Emilio Morenatti

Am Wahlabend kam es in Paris auch zu Randalen von Le-Pen-Gegnern

Mehrere hundert vorwiegend jugendliche Gegner von Le Pen randalierten unterdessen am Wahlabend in Paris. Sicherheitskräfte nahmen laut Medienberichten Dutzende Menschen fest.

Richtungsentscheidung für Frankreich und Europa

Umfragen sehen Macron für die zweite Runde der Wahl klar vor Le Pen. In einer Befragung des Instituts Harris Interactive von Sonntagabend lag Macron bei 64 Prozent, Le Pen bei 36 Prozent. Ipsos sah Macron für die Stichwahl bei 62 Prozent und die Front-National-Chefin bei 38 Prozent. Allerdings hätten zwölf Prozent der Befragten, die sicher zur Wahl gehen wollen, nicht gesagt, wen sie wählen würden, hieß es von Ipsos.

Melenchon

APA/AP/Francois Mori

Melenchon hat sich noch nicht für eine Unterstützung Macrons entschieden

Der FN steht nach 2002 bereits zum zweiten Mal in einer Stichwahl um das französische Präsidentschaftsamt. Ein Sieg Le Pens in zwei Wochen wäre nach dem „Brexit“-Votum und dem Triumph von Donald Trump in den USA der dritte große Erfolg von nationalistischen Populisten. Die FN-Chefin will die Euro-Währung in Frankreich abschaffen und ihre Mitbürger und Mitbürgerinnen über die EU-Mitgliedschaft abstimmen lassen.

FN-Vize: Noch nie so viele Stimmen gegen Europa

Le Pens FN setzt nun auf eine EU-kritische Stimmung im Land. „Es gab noch nie so viele Stimmen für Kandidaten, die der Europäische Union sehr kritisch gegenüberstehen“, sagte FN-Vize Florian Philippot Montagfrüh dem Sender Franceinfo. Dazu zählte er nicht nur seine Parteichefin, sondern auch Melenchon sowie die EU-Skeptiker Nicolas Dupont-Aignan (4,73 Prozent) und Francois Asselineau (0,92 Prozent). „Ich glaube, das wird in der zweiten Runde eine Rolle spielen“, so Philippot. Es gebe eine Mehrheit im Land, die der EU kritisch gegenüberstehe.

Der proeuropäische Macron profilierte sich im Wahlkampf erfolgreich als liberaler Gegenspieler Le Pens. Macron, der Wirtschaftsminister unter Hollande war, hatte sein Parteibuch bei den Sozialisten schon lange abgegeben.

Wahlausgang Thema bei „im Zentrum“

Der Wahlausgang in Frankreich wurde Sonntagabend auch in der Debattensendung „im Zentrum“ diskutiert.

Parlamentswahl im Juni

Nur rund einen Monat nach der Stichwahl steht am 11. und 18. Juni mit der Parlamentswahl die nächste Kursentscheidung in Frankreich an. So umfasst das französische Präsidentschaftsamt im europäischen Vergleich zwar eine beispiellose Machtfülle - eine fehlende Mehrheit in der Nationalversammlung macht allerdings auch für den Elysee-Palast das Regieren schwer.

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