Themenüberblick

Ein Film schreibt Zeitgeschichte vom Rand

Wann und aus welchen Gründen können Gesellschaft und Politik kippen? Noch dazu in einem Land, das ähnlich wie Österreich ein Malheur hat: Das politische Zentrum spürt nicht immer, wie es dem restlichen Land, vor allem den kleinen Kommunen, geht. Der belgische Regisseur Lucas Belvaux ist nun zum filmischen Zeithistoriker Frankreichs geworden und skizziert an einer kleinen Stadt im Norden und der Biografie einiger Leute, die sich zunächst ganz harmlos kennen, das Kippen eines Sozialkosmos.

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„Chez Nous“ („Das ist unser Land“) gibt in vielem mehr Einblicke in die Themen, die Frankreich im Moment umtreiben, als so manche Politikanalyse. Noch dazu von einem Regisseur, der sich zunächst in Belgien sozialisiert hat und relativ spät nach Frankreich gekommen ist. Bisher kannte man Belvaux als den aktuell vielleicht besten Filmemacher, um das Beziehungsleben zwischen Menschen subtil, nüchtern, mitunter poetisch aufzudecken. Die anstehende Präsidentschaftswahl hat auch ihn politisiert und den Spielfilm „Chez Nous“ entstehen lassen, der vor zwei Monaten in Frankreich angelaufen ist und nun in Österreich zunächst beim Filmfestival Crossing Europe zu sehen ist.

"Chez nous" Filmplakat

Le Pacte/Synecdoche Films

Schon im Februar erregte „Chez Nous“ in Frankreich die Gemüter

Eine Partei sucht ihren Platz in der Mitte

Es ist der Aufstieg des Front National (FN) zu einer Partei, die in der Mitte ankommt, der Belvaux für seinen Film inspiriert hat. Auch wenn er die Namen Le Pen und Front National in dem Film nie erwähnt, kann jeder in Frankreich Bezüge zu realen Personen herstellen. Schon als der Trailer zum Film herauskam, trug sich der Regisseur große Polemik vom Mastermind hinter FN-Chefin Marine Le Pen, Florian Philippot, zu.

Gelungen ist Belveaux freilich mehr: Er hat die Themen, die Frankreich schon seit Längerem plagen, in der Geschichte einer Kleinstadt und in den Biografien ihrer Bewohnter lokalisiert - und ist so zu einem eigentlich durchaus kalten Soziologen auf dem Terrain des Kinos geworden. „Mein Ziel war es, den Aufstieg einer Partei und ihre Versuche, in der Mitte der Gesellschaft anzukommen, darzustellen“, sagte der Regisseur über seinen Ansatz in einem der vielen Interviews zum Film.

Vom Arbeitsalltag zur Partei

Belvaux beschreibt in „Chez Nous“ die Geschichte der alleinerziehenden Krankenschwester Pauline Duez (dargestellt von Emilie Duquenne) in einer nordfranzösischen Kleinstadt. Am Rande eines Todesfalles kommt sie mit einem der Ärzte des Ortes in Kontakt, der seit je eine politische Agenda verfolgt. Er war früher Mitglied des Patriotischen Blocks, der sich mittlerweile zum „Rassemblement National Populaire“ (ein kleiner Seitenhieb auch auf De Gaulles einstige RPR-Gründung) umbenannt hat, und sucht für die Parteichefin eine Stellvertreterin für das Amt der Bürgermeisterin. Tatsächlich schafft es der Arzt, die junge, eigentlich apolitische Frau auf seine Seite zu ziehen und sie mit der Chefin der Partei, Agnes Dorgelle, bekannt zu machen.

Szene aus dem Film "Chez nous"

Le Pacte/Synecdoche Films

Vom „Bloc populair“ zur neuen Nationalen Volksbewegung: Anspielungen auf Le Pen und den neuen Front National

Überzeugt vom Charisma der blonden Parteichefin entschließt sich Pauline zum Schritt in die Politik, muss aber bald feststellen, dass sich der Riss in der politischen Gesellschaft bald tief in ihr Privat- und Beziehungsleben eingräbt. Die Auseinandersetzung um ihre Rolle als neue „Marianne“ aus dem Volk lassen schließlich die Dinge eskalieren und kippen.

Unterwegs mit Marine Le Pen

ORF-Korrespondentin Eva Twaroch begleitete Marine Le Pen bei ihren Wahlkampfauftritten und sprach mit engen Vertrauten, politischen Gegnern und dem Parteigründer Jean-Marie Le Pen.

Belvaux, der ja gewohnt ist, sehr genau auf die Zwischentöne in häuslichen Beziehungen zu schauen, inszeniert diesmal ein geschicktes soziales Spiel: hier die Weichenstellungen der Politik in Paris, da die politisch scheinbar unschuldige Situation in der Provinz. Viele wirken apolitisch, sind aber mit dem Establishment und der großen Politik unzufrieden.

Viele wählen seit Langem rechts

Erst in den zwischenmenschlichen Beziehungen, etwa Paulines Annäherung an den Sicherheitsmann Stephane Stankowiak, decken sich langsam auch die politischen Hintergründe auf. So verrät Stephane, dass er schon sehr lange für die Rechte stimmen würde - und wird von seiner neuen Partnerin überrascht, dass sie ähnlich denkt und sich nun aktiv engagieren will.

Szene aus dem Film "Chez nous"

Le Pacte/Synecdoche Films

Pauline entdeckt mit Stephane nicht nur die Liebe, sondern dass man auch politisch ähnliche Ansichten hat

Wem gehört „unser Land“?

Immer wieder ist von den Akteuren in der Kleinstadt zu hören, „dass man sein Land“ zurückwolle - oder dass man in gewissen Vierteln gewisse Dinge zu tun oder zu lassen habe, „weil das unser Land ist“. Belvaux zeigt, dass der Anspruch auf das eigene Territorium und die eigenen Regeln von allen Kulturen bzw. sozialen Subgruppen mobilisierbar ist. Soziale Beziehungen und Bindungen können gerade in der Kleinstadt sehr schnell kippen, wenn sich eine Person, die davor Bindeglied zwischen verschiedenen Gruppen war, politisch deklariert. Davon sind Freundschaften und nicht zuletzt familiäre Bande betroffen.

Dass Pauline eigentlich nur eine Schachfigur im Politmatch ist, kann die Newcomerin nur teilweise realisieren. Zu schnell dreht sich das politische Getriebe - und mir ihr eine Partei, die vor allem auf pyramidale Verbreitungswege in Sozialen Netzwerken setzt.

Zentrum und Peripherie

Am Lokalwahlkampf lassen sich für Belvaux die großen Themen, die Frankreich zurzeit prägen, aufspannen. Da ist nicht zuletzt eine Politklasse, die das lokale Bürgermeisteramt als blankes Feigenblatt der lokalen Verbundenheit instrumentalisiert. 90 Prozent der Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung sind ja heute noch Bürgermeister einer mehr oder weniger großen Stadt in der Provinz und lassen sich für diese Funktion gerne auf lokaler Ebene vertreten.

Regisseur Lucas Belvaux

Le Pacte/Synecdoche Films

Regisseur Belvaux beim Dreh: „Es ist Zeit, die Dinge frontal beim Namen zu nennen“

Modell für die fiktive Stadt Henart ist die nordfranzösische Kommune Henin-Beaumont, die seit Längerem vom Front National regiert wird. Die Stadt des Pas-de-Calais ist Teil der Region Hauts-de-France - und Marine Le Pen ist dort auch Mitglied des Regionalrats.

Film als Abrechnung mit den Le Pens?

Die Umwandlung des einstigen „Bloc populair“ hin zum Nationalen Volksbündnis stattet Belvaux mit so überdeutlichen Bezügen zum Front National aus, dass viele in dem Film vor allem eine Abrechnung mit der Partei von Jean-Marie und Marine Le Pen sehen wollten. In zahlreichen Städten im Süden Frankreichs, in denen der FN seine traditionellen Hochburgen hat, gab es Probleme, den Film in den lokalen Kinos unterzubringen. Wie so oft hatten viele, die sich über diesen Film aufregten, das Produkt gar nicht gesehen.

Und auch die Cineasten reagierten teilweise mit Unverständnis auf den Film. Zu plakativ, zu weit weg von der bekannten Handschrift des Regisseurs, lautete das Urteil etwa auch von „Le Monde“ zum jüngsten Werk Belvaux’. Er hält dagegen, dass er sich aus guten Gründen mit einem Kunstwerk in die elektorale Debatte einmischen wollte und es Zeit sei, „Dinge frontal zu benennen“.

„Was wir heute erleben, ist eine Generation, die in den 1980er Jahren geboren ist und die in ein ideologisches Loch fällt“, erklärte er etwa der Zeitung „La Provence“: „Diese Generation hat den Eindruck, dass alle ideologischen Debatten und politischen Errungenschaften letztlich zu nichts geführt haben.“

Sicherheitsnetze tragen nicht mehr

Belvaux konstruiert gerade in diesem Umfeld eine Familienaufstellung, in dem sich der Vater, Mitglied der Kommunistischen Partei, einer Tochter gegenübersieht, die seine politischen Kämpfe als sentimentale Politromantik erlebt. Als Alleinerzieherin sieht sie kein Ende des Tages und versorgt neben den Kindern auch noch den schwächer werdenden Vater. Etablierte Sicherheitsnetze tragen für sie nicht mehr.

Belvaux greift mit seinem Blick auf den Norden Frankreichs genau das auf, was alle demoskopischen Daten seit der Mitte der 1980er Jahre bereithalten. Der Front National mobilisiert gerade dort, wo früher sozialistische und kommunistische Lokalpolitik betrieben wurde. Anfällig erscheint bei ihm gerade eine neue, junge Generation, die mit Ideologien nichts mehr am Hut hat und die auch mit Links-rechts-Schemata nichts mehr anfangen kann. Und die umso offener für diffuse Slogans der Marke „Wir müssen wieder zu unserem Land stehen“ scheint.

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