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Ausnahmezustand verlängert

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zeigt sich nach dem knappen Ausgang des Verfassungsreferendums unbeeindruckt von seinen Kritikern. Vielmehr kündigte er an, rasch mit dem Umbau des Staates zu beginnen. In einem ersten Schritt soll das Justizsystem reformiert werden.

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Das versprach Erdogan Montagabend vor jubelnden Anhängern auf den Stufen des Präsidentenpalastes in Ankara. Und so sieht es auch die geplante Verfassungsreform vor. Drei der 18 neuen Verfassungsartikel sollen unmittelbar in Kraft treten. Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), das oberste Kontrollorgan der Justiz, wird künftig statt 23 nur noch 13 Mitglieder haben. Vier davon kann Erdogan direkt ernennen. Außerdem müssen zwei Militärrichter das Verfassungsgericht verlassen. Und der Präsident ist nicht mehr zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet.

„Dann machen wir auch dafür ein Referendum“

Die restlichen Änderungen - und damit die ganze neue Machtfülle für den Präsidenten - sind allerdings an die kommende Wahl des Parlaments gebunden. Geplanterweise wird diese 2019 stattfinden. Beobachter rechnen aber damit, dass Erdogan bereits vorher die Regierung entlassen und Neuwahlen ausrufen lässt - womöglich bereits in den kommenden Monaten. Dass Erdogan auch nach dem Referendum mehrfach die Wiedereinführung der Todesstrafe in den Raum stellte, mag bereits einen Vorblick auf einen vorgezogenen Wahlkampf sein.

Sollte das Parlament die entsprechende Verfassungsänderung mit der nötigen Zweidrittelmehrheit bestätigen, werde er das Gesetz unterzeichnen, kündigte Erdogan etwa am Montagabend an. „Aber wenn nicht, dann machen wir auch dafür ein Referendum.“ Die Menge skandierte: „Todesstrafe, Todesstrafe“. Das Referendum vom Sonntag hatte das Lager von Erdogan laut dem vorläufigen Ergebnis mit 51,4 Prozent knapp für sich entschieden.

Recep Tayyip Erdogan spricht zu seinen Anhängern

APA/AP/Press Presidency Press Service

Erdogan kokettiert auch nach dem Referendum mit der EInführung der Todesstrafe

Fix ist bereits, dass der Ausnahmezustand im Land für weitere drei Monate verlängert wird. Am späten Montagabend gab die Regierung grünes Licht. Zuvor hatte der von Erdogan einberufene Nationale Sicherheitsrat sich für die Verlängerung ausgesprochen. Formell muss nun noch das Parlament der umstrittenen Maßnahme zustimmen. Es kommt am Dienstag das erste Mal seit dem Referendum zusammen.

Tausende auf der Straße

Zwar sprachen Erdogan und die türkische Regierung seit Sonntagabend mehrfach von einem „historischen Sieg“ für „das ganze Land“. Das kann aber nicht über die Spaltung hinwegtäuschen, die sich durch die Türkei zieht. In der Nacht auf Dienstag gingen erneut Tausende Menschen gegen Erdogans Pläne und die ihrer Meinung nach unfairen Wahlbedingungen auf die Straße. „Das ist nur ein Anfang. Der Kampf geht weiter“, skandierten die Demonstranten. Und: „Dieb, Mörder, Erdogan“.

Proteste in Istanbul

APA/AFP/Bulent Kilic

In Istanbul gingen in der Nacht mehrere tausend Menschen auf die Straße

Zumindest zum Teil konnten sie in ihrer Kritik immerhin die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hinter sich wissen. Deren Wahlbeobachter hatten - wie auch der Europarat - noch am Wahlabend erklärt, die Abstimmung habe nicht internationalen Standards entsprochen. Einen Hinweis auf Betrug wollten die OSZE-Wahlbeobachter zwar nicht sehen. Allerdings habe die kurzfristige Entscheidung, auch ungestempelte Wahlzettel anzunehmen, dem türkischen Gesetz widersprochen. Diese Meinung teilte am Dienstag die türkische Anwaltskammer.

Noch deutlich schärfer äußerte sich die Menschrechtssprecherin der Grünen, Alev Korun - die österreichische Politikerin war für den Europarat als Wahlbeobachterin in der Türkei. Es gebe den Verdacht, dass bis zu 2,5 Millionen Stimmen manipuliert worden seien, sagte Korun, am Dienstag im Ö1-Morgenjournal. Die Beschwerden hätten ein Ausmaß, das das Wahlergebnis drehen würde, sagte sie - Audio dazu in oe1.ORF.at.

Einspruch kaum möglich

Auch die Opposition monierte Unregelmäßigkeiten und verlangte, das Referendum für ungültig zu erklären. An vielen Orten hätten Wähler nicht geheim abstimmen können, kritisierte die sozialdemokratische CHP. Zudem seien Stimmen im Verborgenen ausgezählt worden. Die Oppositionspartei hat am Dienstag bei der Hohen Wahlkommission offiziell die Annullierung des Referendums beantragt. „Dieses Referendum ist suspekt“, sagte Parteichef Kemal Kilicdaroglu.

Karte zeigt das Wahlverhalten der Türkei

APA/ORF.at

Erdogans Gegner wollen notfalls bis vor das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ziehen. Allerdings muss die Wahlkommission nur vor sich selbst Rechenschaft ablegen und untersteht keiner anderen Behörde. Praktisch ist damit weder der Gang vor nationale Gerichte noch vor den EGMR möglich.

Erdogan lobt „demokratische Wahlen“

Erdogan machte keinen Hehl daraus, was er von der Kritik aus dem In- und Ausland hielt. In Anlehnung an die niedergeschlagenen Gezi-Proteste vom Sommer 2013 sagte Erdogan über die Demonstranten: „Das sind eben Gezi-Leute. Das sind die mit den Töpfen und Pfannen.“ Auch damals hatten Anrainer ihrem Protest durch das Schlagen auf Kochtöpfe Ausdruck verliehen.

In Richtung seiner ausländischen Kritiker hieß es vom türkischen Präsidenten: „Dieses Land hat die demokratischsten Wahlen durchgeführt, wie sie kein einziges Land im Westen je erlebt hat“, sagte der Staatspräsident. An die Adresse der OSZE und des Europarates gerichtet sagte Erdogan: „Kennt Eure Grenzen“. Der Bericht der Wahlbeobachter sei politisch motiviert und werde von der Türkei nicht anerkannt.

Zudem hätten sich einige europäische Länder stärker gegen die Verfassungsänderungen ausgesprochen als die türkische Opposition selbst. Erdogan betonte, ihm sei gleichgültig, was westliche Staaten zur Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei meinten. „Ich achte nur darauf, was mein Volk sagt und was Allah sagt.“ Ihm sei auch gleichgültig, ob die EU den Beitrittsprozess einfriere, wofür sich das EU-Parlament ausgesprochen hatte. Der Präsident brachte seinerseits ein Referendum über einen Abbruch des Beitrittsprozesses durch die Türkei selber ins Spiel.

Trump übermittelt Glückwünsche

Während die Politik in Europa entsprechend verhalten auf das Referendumsergebnis reagierte, kam am Montagabend schließlich doch noch eine Gratulation aus dem Westen. US-Präsident Donald Trump rief Erdogan an und überbrachte ihm Glückwünsche, bestätigte das Weiße Haus in der Nacht türkische Medienberichte. Die offizielle Linie des Weißen Hauses hatte zuvor freilich noch etwas anders ausgesehen.

US-Präsidialamtssprecher Sean Spicer sagte Montagnachmittag in Washington, das Weiße Haus werde sich zunächst nicht zu dem Ausgang des Referendums äußern. „Es gibt eine internationale Kommission, die in den kommenden zehn bis zwölf Tagen ihren Bericht (...) veröffentlichen wird. Wir werden bis dahin warten und die Wahlbeobachter ihren Job machen lassen“, sagte Spicer. Auch der Sprecher des US-Außenministeriums, Mark Toner, hatte am Montag auf eine Gratulation verzichtet. Er appellierte vielmehr an die Türkei, die Rechte der Kritiker der Verfassungsreform zu respektieren.

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