Nur „theoretisch viele Möglichkeiten“
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) schlägt angesichts der am Sonntag in der Türkei anstehenden Abstimmung über die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Verfassungsreform Alarm. Geht es nach dem Chef der in der Türkei bereits aktiven OSZE-Wahlbeobachter, Michael Link, war es für das Nein-Lager „unmöglich, einen adäquaten Wahlkampf zu machen“.
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Link verwies im Interview mit der „Welt“ dabei vor allem auf den seit dem Putschversuch vom Juli vergangenen Jahres ausgerufenen Ausnahmezustand und die damit verbundenen Einschränkungen. Als zentralen Hintergrund nennt Link dabei eingeschränkte Versammlungsfreiheit und die „reduzierte Medienberichterstattung“.
„158 Medienerzeugnisse geschlossen“
„Wir haben gezählt, dass seit vergangenem Juli 158 Medienerzeugnisse, darunter Zeitungen beziehungsweise Portale geschlossen wurden“, wird Link dazu von der Zeitung zitiert. „Zigtausend Mitarbeiter und mehrere 1.000 Journalisten, die bei diesen Medien gearbeitet haben, sind jetzt ohne Arbeit“, wie der Direktor der für die türkische Beobachtermission zuständigen OSZE-Organisation für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) weiter sagte. „Eine Rekordzahl“ der Betroffenen befinde sich zudem nach wie vor in Haft.
Link zufolge hatte das Nein-Lager lediglich „theoretisch viele Möglichkeiten“, Wahlkampf zu machen. In der Praxis hatten Anhänger des Nein-Lagers aber etliche Probleme, Veranstaltungen durchzuführen, so Link mit Verweis auf Angaben von OSZE-Langzeitbeobachtern. Dazu komme, dass von regierungsnahen Medien über die Nein-Anhänger „ein Bild voller Feinde, Machenschaften und Konspiration“ gezeichnet worden sei.
Verwiesen wurde von Link zudem auf die Inhaftierung von 13 Abgeordneten der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Für die Partei, die Link als „wesentlichen Träger der Nein-Kampagne“ bezeichnete, sei es schon allein deshalb unmöglich gewesen, einen adäquaten Wahlkampf zu machen. Zusammengefasst habe es „leider eine teilweise Einschüchterung der Anhänger der Nein-Kampagne“ gegeben, wie Link es diplomatisch ausdrückte.
HDP-Chef bezeichnet Wahlkampf als unfair
„Diese Kampagne ist natürlich nicht in einem fairen und gleichberechtigten Wettbewerb abgelaufen“, hieß es dazu am Donnerstag auch in einer von der HDP verbreiteten Nachricht des inhaftierten Parteichefs Selahattin Demirtas.
Demirtas forderte die Türken zur Stimmabgabe auf und dazu, an der Wahlbeobachtung teilzunehmen. Ein Nein beim Referendum werde zu Frieden, Stabilität und Brüderlichkeit in der Türkei beitragen. Man müsse jedoch die Entscheidung eines jeden Wählers respektieren, hieß es weiter.
Auch UNO-Menschenrechtler schlagen Alarm
Link äußerte indes die Hoffnung, dass sich nach dem Referendum die Situation in der Türkei wieder verbessere. „Wir denken auch, dass unsere Berichte alle in der Türkei daran erinnern, dass es Dinge gibt, die sich dringend wieder normalisieren müssen.“
UNO-Menschenrechtler fürchten allerdings bei einem Sieg des Ja-Lagers und der damit verbundenen Machtausweitung für Erdogan weitere Menschenrechtsverletzungen.
„Geht man von der willkürlichen und weitreichenden Natur der Notverordnungen aus, die seit Juli 2016 verhängt wurden, haben wir ernste Sorge, dass solche Befugnisse in einer Art und Weise genutzt werden könnten, die die schon bestehenden Verletzungen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Menschen noch verschärfen“, teilten vier UNO-Menschenrechtsberichterstatter am Donnerstag in Genf mit.
Ausnahmezustand als Vorwand kritisiert
Der Ausnahmezustand sei nach dem Putschversuch als Vorwand für massive Menschenrechtsverletzungen genutzt worden, so die Menschenrechtler. Die Entlassung von bis zu 134.000 Beamten ohne eingehende Prüfung, Abfindung oder Widerspruchsrecht sei nicht zu rechtfertigen.
Mehr als 1.000 Schulen und 15 Universitäten seien geschlossen worden. Die Entlassung von Journalisten habe die Chancen auf eine echte Debatte über das Präsidialsystem untergraben. Auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie das Recht auf Bildung dürften nur „zur Förderung des Wohls einer demokratischen Gesellschaft“ eingeschränkt werden. Diese Kriterien seien in der Türkei nicht erfüllt.
Umfragen sehen knappen Vorsprung für Ja
Der Ausgang des Referendums ist Umfragen zufolge nach wie vor offen. Nach einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage des Instituts Gezici wollen am Sonntag 51,3 Prozent der Wahlberechtigten für die Verfassungsreform stimmen und 48,7 Prozent dagegen. Unklar war, wie hoch der Anteil der noch Unentschlossenen ist. Vor einer Woche lag die Zustimmung bei einer Gezici-Umfrage noch bei 53,3 Prozent.
In zwei anderen, am Mittwoch veröffentlichten Umfragen lag die Zustimmung bei 51 bis 52 Prozent. Im Durchschnitt von acht Umfragen zeichneten sich 50,8 Prozent für ein Ja ab, wie eine Zusammenstellung der Nachrichtenagentur Reuters ergab.
Die Abstimmung der im Ausland lebenden Türken endete bereits am Sonntag. Dabei hatte es eine hohe Wahlbeteiligung gegeben. Nach Angaben Erdogans reisten in dieser Woche deutlich mehr im Ausland lebende Türken in ihre Heimat als üblich. Das könnte Meinungsforschern zufolge Erdogan zugutekommen.
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