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Ausgang ungewiss

Über 55 Mio. Türkinnen und Türken sind am Sonntag an die Urnen gerufen. Mit Ja oder Nein können sie für oder gegen die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei stimmen. Zugleich ist das Referendum aber auch eine Abstimmung über jenen Politiker, der seit Jahren die Geschicke des Landes lenkt.

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Im August 2014 wurde aus Premier Recep Tayyip Erdogan Präsident Erdogan. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hatte der Politiker, der seine islamisch konservative Partei in den Jahren zuvor groß gemacht hatte, eine klare Agenda: die Ausweitung der Kompetenzen des Präsidenten.

Wahllokale offen

Am Sonntag kommen diese Bestrebungen zu einem vorläufigen Höhepunkt: Seit 7.00 Uhr (Ortszeit/6.00 MESZ) können die Bürgerinnen und Bürger der Türkei darüber abstimmen, ob sie Erdogans Vorstellung von einem mächtigen Präsidenten mittragen wollen. Auf den Stimmzetteln stehen zwar nur die Wörter „Evet“ und „Hayir“ (Ja und Nein). Wozu sie ihr Ja oder Nein geben, ist nach einer monatelangen Kampagne inzwischen aber wohl so gut wie allen Türkinnen und Türken klar. Erdogan gab seine Stimme in seiner Heimatstadt Istanbul ab und unterstrich dabei noch einmal die Bedeutung des Referendums.

Macht in einer Person konzentriert

Insgesamt 18 Verfassungsänderungen umfasst das Paket, dem die Wählerinnen und Wähler am Sonntag ihre Zustimmung geben sollen. Der Präsident (eine Präsidentin gab es in der Türkei noch nie) hatte bisher - zumindest auf dem Papier der Verfassung - vor allem repräsentative Funktion. Nun soll er zum Regierungschef und das Amt des Premiers abgeschafft werden. Zugleich verliert das Parlament an Befugnissen. Können die Abgeordneten zurzeit theoretisch Ministerinnen und Minister ihres Amtes entheben, bleibt ihnen in Zukunft nur noch die Möglichkeit, diese zu einer Befragung vorzuladen. Und der Präsident ist davon überhaupt ausgenommen.

Recep Tayyip Erdogan

APA/AFP/Kayhan Ozer

Ein Großteil der Macht in einer Person konzentriert - so stellt sich Erdogan die Türkei der Zukunft vor

Zwar soll die Regierungszeit des Präsidenten oder der Präsidentin mit der Verfassungsreform auf zwei Amtszeiten beschränkt werden. Doch gilt das nicht rückwirkend. Erdogan könnte als noch zweimal zur Wahl antreten. Stattfinden sollen die Präsidentschaftswahlen dann immer gleichzeitig mit jenen für das Parlament. Das soll sicherstellen, dass der Staats- und Regierungschef in Personalunion auch tatsächlich von der stärksten Parlamentspartei gestellt wird.

Erdogan und die AKP argumentieren, die Verfassungsänderung sei nötig, um in unruhigen Zeiten eine starke Führung zu garantieren. Auch dringend nötige Wirtschaftsreformen ließen sich damit schneller realisieren. Die Regierung verspricht im Falle eines positiven Ausgangs des Referendums ein jährliches Wirtschaftswachstum von sechs Prozent.

Omnipräsenter Erdogan

Für die Kritiker Erdogans, darunter die sozialdemokratische CHP und die prokurdische HDP, entbehren solche Prognosen jeder Grundlage. Die Opposition warnt davor, dass Erdogan die Türkei schrittweise in einen autoritär geführten Staat umbaue. In der breiten Öffentlichkeit kommen die kritischen Stimmen freilich kaum zu Wort.

Plakat von Recep Tayyip Erdogan

APA/AFP/Bulent Kilic

Erdogan und seiner Ja-Kampagne lässt sich in der Türkei zurzeit kaum entgehen

Erdogan und seine AKP unterließen in den vergangenen Wochen und Monaten kaum etwas unversucht, um die Wählerinnen und Wähler zu überzeugen. Ein gigantischer Wahlkampftross zog durch das Land, AKP-Anhänger wurden mit eigens dafür abgestellten öffentlichen Bussen zu den Auftritten transportiert.

Von den Fassaden vieler öffentlicher Gebäude riefen den Türkinnen und Türken riesige Erdogan-Konterfeis ein Ja entgegen. Und im Fernsehen war ohnehin fast alles Erdogan. Die Reden des Präsidenten liefen täglich über die großen TV-Sender. Selbst zusammengezählt kamen die größten Oppositionsparteien in den landesweiten TV-Kanälen gegenüber der AKP nur auf einen Bruchteil der Sendezeit.

Kritik an Repressionen

Den Gegnern der Verfassungsänderung blieben für ihre Kampagnen oftmals nur die Sozialen Netzwerke. Sie hatten aber nicht allein mit der fehlenden Medienpräsenz zu kämpfen. Von Einschüchterungsversuchen war die Rede, von Repressionen durch die Polizei und lokale Verwaltungspolitiker. Immerhin befindet sich die Türkei seit dem Putschversuch Anfang Juli im Ausnahmezustand. Tausende Menschen wurden seitdem verhaftet.

Frau mit türkischer Fahne

APA/AFP/Ozan Kose

Die Gegner der Verfassungsänderung kamen in den Medien nur schwer zu Wort

Zuletzt übte auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) scharfe Kritik am türkischen Wahlkampf. In der Türkei werde die Nein-Kampagne behindert, sagte der Leiter der OSZE-Wahlbeobachter, Michael Link, mehreren Medien, darunter der Deutschlandfunk. „Es gab gewaltsame Zwischenfälle, Einschüchterungen, von der einseitigen Medienberichterstattung ganz zu schweigen“, sagte Link.

Harte Rhetorik als Zeichen der Unsicherheit

Darüber hinaus riskierte Erdogan im Wahlkampf ganz bewusst den Bruch mit der EU. Im März eskalierte der Streit rund um Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Europa. Höhepunkt der Auseinandersetzung war - wenige Tage vor der dortigen Parlamentswahl - die Ausweisung der türkischen Familienministerin Fatma Betul aus den Niederlanden. Erdogan beschimpfte europäische Politiker im Gegenzug als Kreuzritter, Faschisten und Nazis.

Die zunehmende rhetorische Eskalation ist für viele aber auch ein Indiz dafür, dass Erdogan sich eines Siegs am Sonntag nicht sicher sein kann. In den jüngsten Umfragen lagen zwar die Ja-Befürworter knapp vor den Gegnern. Wie verlässlich die Zahlen tatsächlich sind, ist aber umstritten. Fast ein Viertel der Türkinnen und Türken will gar nicht angeben, wo sie ihr Kreuz machen werden. Andere gäben nur vor, mit Ja zu stimmen, vermuten Politologen.

Wahlbeteiligung im Ausland gestiegen

Dazu kommt die Frage, wer und wie viele überhaupt zur Abstimmung gehen. Viele Junge könnten ihr Votum womöglich überhaupt verweigern. Eine Umfrage der Gesellschaft MetroPoll zeigte kürzlich, dass 46 Prozent der Türken und Türkinnen zwischen 18 und 24 Jahren beim Referendum nicht abstimmen wollen.

Bei den Türkinnen und Türken im Ausland scheint Erdogan mit seinem hart geführten Wahlkampf freilich erfolgreich gewesen zu sein. Für die türkische Diaspora endete die Wahlfrist bereits am vergangenen Sonntag. Und auch wenn die Stimmen erst gemeinsam mit den in der Türkei abgegebenen ausgezählt werden, steht eines bereits fest: Die Wahlbeteiligung unter den Türkinnen und Türken in Österreich und Deutschland fiel diesmal deutlich höher aus als bei der türkischen Parlamentswahl vor drei Jahren.

Tote vor Wahllokal

Bei einem Zusammenstoß während des Referendums wurden in der mehrheitlich kurdischen Provinz Diyarbakir zwei Menschen getötet. Die türkische Nachrichtenagentur DHA meldete, eine weitere Person sei verletzt worden.

Sonntagfrüh sei es vor einem Wahllokal zu einem Streit gekommen, bei dem die Beteiligten mit Messern und Schusswaffen aufeinander losgegangen seien. Dabei seien drei Menschen verletzt worden. Zwei davon seien auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Ein Verdächtiger sei festgenommen worden.

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