Athen macht den Anfang, Kassel zieht nach
Ambitioniert war das Programm der documenta schon immer seit ihrer Premiere im Jahr 1955 - und doch ist die aktuelle 14. Ausgabe etwas ganz Besonderes: Die wichtigste Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst findet dieses Mal gleichberechtigt an zwei Orten statt. Bereits vor dem Beginn der Kunstschau in Kassel verwandelten 160 Kunstschaffende die griechische Hauptstadt Athen in ein riesiges Museum.
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Anfang April, 12.00 Uhr auf dem Syntagma-Platz im Zentrum Athens: Eine Gruppe Menschen werkt mit Messern und Nadeln auf einem riesigen Fleckerlteppich aus Jutesäcken. Stören lassen sie sich dabei weder von der Mittagssonne, die vom Himmel brennt, noch von den vielen Schaulustigen, die um die Arbeitenden herumstehen, sie bestaunen, fotografieren und filmen.
Mitgebracht hatte die Säcke aus dem groben, braunen Stoff der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama. „Check Point Prosfygika 1934–2034. 2016–2017“ heißt seine „Intervention“, mit der er die lange Tradition des politischen Engagements auf dem Platz unterhalb des griechischen Parlaments Stofffetzen für Stofffetzen sichtbar machen wollte.
Performance dieses Mal hoch im Kurs
Ein starker Politikbezug, eine simple Tätigkeit als Performance und öffentlicher Akt, an dem Besucher im wahrsten Sinne des Wortes nur schwer vorbeikommen: Mahamas Arbeit steht in gewisser Weise prototypisch für das, was die documenta 14 bieten will. Kunstliebhaber sollen sich nicht nur berieseln lassen, sondern mittendrin sein.
Der Athener Ableger der documenta findet an mehr als 40 Orten statt. Museen sind ebenso darunter wie das große Konservatorium der Stadt, zahlreiche Galerien, eine Bibliothek und eine Schule. Leerstehende Geschäfte werden zu einer Mischung aus Ausstellungsraum und Nachbarschaftszentrum. Kunstwerke können aber auch in Gärten und Wohnungen oder auf Hügeln verborgen sein.
So hoch wie noch nie in der Geschichte des alle fünf Jahre für 100 Tage stattfindenden Ausstellungsreigens war der Anteil an Performances und Interventionen. Auf dem Platz vor dem Athener Rathaus etwa lud der pakistanische Künstler Rasheed Araeen zweimal täglich 60 Menschen zum gemeinsamen Essen. Bei Tisch wurde die politische Lage erörtert und nach Strategien für den sozialen Wandel gesucht.
Ein Grunzen auf der Bühne
Auch die Pressekonferenz zwei Tage vor dem Start der Kunstschau wurde mit einer Performance eingeleitet. In der Dunkelheit der Bühne der Athener Megaron-Musikhalle hob ein vielstimmiges Grunzen, Zischen, Säuseln und Fauchen an, das beständig lauter wurde, ehe das Licht anging - und das Publikum zu sehen bekam, dass es die Kunstschaffenden und das Organisationsteam der documenta waren, die den Chor bildeten. Das Stück mit dem Titel „Epicycle, 1968–2017“ entstammt der Feder des griechischen Komponisten Jani Christou. Auf der documenta 14 war es, dirigiert von Rupert Huber, mehrmals zu sehen und hören.
In den zweieinhalb Stunden nach der Aufführung versuchte das documenta-Team, allen voran der aus Polen stammende künstlerische Leiter Adam Szymczyk, zu erklären, was es mit dem Motto „Von Athen lernen“ auf sich hat. Von der Stadt habe er gelernt, „vorgefasste Meinungen aufzugeben“, sagte Szymczyk.
Die Beschäftigung der Kuratoren mit der griechischen Hauptstadt hat dem Programm der documenta 14 jedenfalls eine deutlich politische Schlagrichtung gegeben. Griechenland stand in den vergangenen Jahren im Zentrum der Schuldenkrise, deren Auswirkungen für die Bevölkerung - trotz sich bessernder Wirtschaftsdaten - nach wie vor spürbar sind. Hinzu kam die Flüchtlingskrise, Tausende Menschen waren in der Akropolis-Metropole gestrandet.
Fehlender roter Faden als Vorteil
Vielen der gezeigten Werke war gemein, dass sie von politischen und sozialen Themen inspiriert sind und Denkanstöße geben wollen. In künstlerischer Hinsicht allerdings zog sich kein roter Faden durchs Programm. Für Kunstinteressierte war das ein Vorteil. Sie konnten ihre Entdeckungsreise entweder bei den vier Hauptlocations - dem Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst (EMST), dem Benaki Museum, dem Konservatorium und der Kunstschule - beginnen oder sich einfach durch die Stadt treiben lassen.
Zu entdecken gab es vieles - manches erst auf den zweiten Blick: Das galt etwa für die Installation des kosovarischen Künstlers Sokol Beqiri. Bei „Adonis“, so der Titel des Werks, handelt es sich um einen griechischen Baum, der mit Eichenzweigen aus Kassel veredelt wurde. Oder ein aus Marmor gehauenes Zelt der kanadischen Künstlerin Rebecca Belmore, das auf einem Hügel mit Blick auf das Parthenon aufgestellt ist und ein steinernes Mahnmal für die Flüchtlingskrise darstellt.
Rote Wolle für den Meeresgott
Im EMST stachen unter anderem die Masken von Beau Dick hervor. Der heuer im Alter von 61 Jahren verstorbene Künstler wurde in den indigenen Stamm der Kwakwaka’wakw geboren, die an der Westküste Kanadas leben. Sehenswert ist auch „Quipu Womb (The Story of the Red Thread)“ der in Chile geborenen Künstlerin Cecilia Vicuna. Blutrot gefärbte Schafwolle wand sich im Museum in Anlehnung an alte Sagen aus den Anden in langen Schlangen von der Decke. Die „weiche Skulptur“ wurde später als Opfergabe im Mittelmeer versenkt - Anden-Märchen trifft griechische Mythologie.
Im Keller des Konservatoriums, wo auch die Collagen der österreichischen documenta-Teilnehmerin Elisabeth Wild zu sehen waren, traf indes Klang auf bildende Kunst. Die türkischstämmige Künstlerin Nevin Aladag zeigte hier zu Instrumenten umgebaute Möbel und Alltagsgegenstände. Über Sessel spannen sich Harfensaiten, mit Fellen bespannte Kochtöpfe werden als Trommeln genutzt, aus einem Tisch wird ein Hackbrett. Die Instrumente waren nicht nur schön anzuschauen, sondern wurden auch im Rahmen von Musikperformances gespielt.
Ganz ohne Rivalität zwischen den Standorten kam die documenta nicht aus. Der aus Kamerun stammende Künstler Bili Bidjocka hatte die Kunstschule in eine Schacharena verwandelt. Athen und Kassel trafen auf einem riesigen Schachbrett in Form von weißen und schwarzen Skulpturen aufeinander. Wer gewinnt, wird sich noch zeigen - den Eröffnungszug der Kunstausstellung durfte jedenfalls Athen machen.
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Philip Pfleger, ORF.at, aus Athen