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Vom Sinn des Lebens im Kapitalismus

Jean Ziegler hat sich mit ORF.at im Wiener Parkhotel Schönbrunn zum Gespräch getroffen. In imperialer Umgebung wettert er gegen die Imperien und Imperatoren heutiger Tage: multinationale Konzerne, Milliardäre und gewissenlose Politiker. Aber verloren gibt Ziegler seinen lebenslangen Kampf gegen sie noch nicht.

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ORF.at: Ein Vierzehnjähriger, der mit der ständigen Präsenz von Zeitungen und Radionachrichten aufgewachsen ist, hat unlängst zu mir gesagt: „Es wäre besser, die Menschheit hätte es nie gegeben.“ Wie kann ich ihn vom Gegenteil überzeugen?

Jean Ziegler: Sie können ihm sagen, dass der Mensch ein unglaubliches Lebewesen ist, wenn er sich seiner Menschlichkeit bewusst wird. Dass er eine unglaubliche Fähigkeit der Solidarität und Liebe in sich trägt - die er allerdings konkretisieren muss. Das ist die Antwort.

Jean Ziegler im Interview

ORF.at/Lukas Krummholz

ORF.at: Sie haben in Ihrem Buch geschrieben: „Die Welt befindet sich in einer Teufelsspirale. Zwischen den extrem Reichen und der anonymen Masse der Ärmsten wächst die Ungleichheit unaufhaltsam an.“ Sie haben viele Zahlen genannt. Der ehemalige Weltbank-Chefanalyst Francois Bourguignon jedoch schreibt in seinem Buch „Die Globalisierung der Ungleichheit“, dass die Ungleichheit innerhalb vieler Staaten zwar größer wird, global gesehen jedoch paradoxerweise kleiner. Stimmt das nicht - und falls ja, ist das kein gutes Zeichen?

Ziegler: Nein, das stimmt nicht. Die 85 reichsten Milliardäre der Welt haben 2015 so viele Vermögenswerte wie die ärmeren 4,5 Milliarden der Weltbevölkerung. Oder eine andere Zahl: Die 500 größten Privatkonzerne der Welt haben 2016 52,8 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert, also aller in der Welt produzierten Reichtümer. Die haben eine Macht, wie es nie ein König, Kaiser oder Papst gehabt hat in der Geschichte der Menschen. Diese Macht steigt.

Und gleichzeitig, antinomisch zu dieser Monopolisierung der wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Macht steigen die Leichenberge in der Dritten Welt. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Fast eine Milliarde Menschen sind fast permanent schwerst unterernährt, von den 7,3 Milliarden, die wir sind. Derselbe Welthungerreport der FAO, der diese Zahlen enthält, besagt, dass die Landwirtschaft, so wie sie heute ist, problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschen gibt es keinen objektiven Mangel mehr, trotz des täglichen Massakers des Hungers. Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wurde ermordet.

Jean Ziegler im Interview

ORF.at/Lukas Krummholz

ORF.at: Ich fahnde nach guten Nachrichten. Stimmt es, dass prozentuell gesehen der Anteil an hungernden Menschen sinkt - auch wenn er in absoluten Zahlen steigt?

Ziegler: Das stimmt. Das hat mit dem demografischen Druck zu tun. Es stimmt also proportional. Die Zahl ist in fünf Jahren um zwei Prozent gesunken - aber in absoluten Zahlen gestiegen. Das zählt ja. Wenn ein Kind stirbt, stirbt die Welt.

ORF.at: Daraus kann man also noch keine positive Headline machen?

Ziegler: Auf gar keinen Fall. Das Massaker des Hungers ist der größte Skandal unserer Zeit.

ORF.at: Gilt dasselbe für die extreme Armut? Auch da ist ja, vor allem aufgrund des Wachstums in China und Indien, ein Absinken des prozentuellen Anteils zu beobachten.

Ziegler: Dasselbe gilt für die extreme Armut. Sie ist nur proportional gesunken, aber nicht in absoluten Zahlen.

ORF.at: Das gilt dann wohl auch für die Gewalt? Steven Pinker hat in seinem viel beachteten Buch „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ tonnenweise Zahlenmaterial zusammengetragen und nachgewiesen, dass gewaltsam herbeigeführte Todesfälle von der Sesshaftwerdung des Menschen bis heute ständig gesunken sind.

Ziegler: Ja, sicherlich. Aber die Kriege, die es gibt, sind fürchterlich. Die Lähmung der UNO ist fürchterlich. Es gibt nicht enden wollende Konflikte, weil die internationale Gesellschaft nicht intervenieren kann wegen des Vetorechts. In Syrien, dieser fürchterliche Krieg - seit sieben Jahren! Wegen des russischen Vetos. Kein Blauhelm, kein humanitärer Korridor, kein Flugverbot, kein absehbares Ende für dieses fürchterliche Massaker.

In Darfur ist es das chinesische Veto, weil elf Prozent des von China importierten Erdöls aus dem Sudan kommen. Keine Intervention der UNO in Darfur. Achtjähriger Krieg ohne irgendein absehbares Ende, ein Krieg gegen zwei afrikanische Völker, geführt von einem islamischen Diktator.

Oder Gaza. Es geht um 1,8 Millionen Menschen, die eingeschlossen sind, total blockiert, seit 2006. Es herrscht dort Unterernährung. Menschen sterben zu Tausenden wegen Medikamentenmangels. Die UNO ist in keiner Weise präsent, weil das amerikanische Veto besteht.

ORF.at: Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, ein möglicher Reformvorschlag wäre ...

Ziegler: ... das Veto auszusetzen. Das muss kommen. Dass das Veto nicht mehr ausgerufen werden kann von einer der fünf Mächte im Ständigen Sicherheitsrat, wo es um Konflikte geht, wo Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind Unverjährbar und sind im internationalen Völkerrecht akribisch definiert. In Syrien müsste das russische, in Darfur das chinesische und in Gaza das amerikanische Veto ausgesetzt werden.

Ziegler spricht über den „schmalen Grat der Hoffnung“

Langfassung des Studiogesprächs der ZIB2 mit Jean Ziegler - über Armut, Hunger, die Macht der Konzerne und darüber, was das den Einzelnen angeht.

ORF.at: Sie sind einer der erfahrensten Kämpfer im Sinne der Aufklärung. Wie schätzen sie die Chancen ein, dass das Vetorecht gelockert wird?

Ziegler: Das ist eine sehr zentrale Frage. Ich bin voller Hoffnung. Darum heißt das Buch „Der schmale Grat der Hoffnung“. Als Kofi Annan zum ersten Mal 2006 diesen Vorschlag machte, quasi als sein Testament, bevor er das Amt des UNO-Generalsekretärs zurücklegte, haben die Vetomächte den Vorschlag versenkt, in die tiefste Schublade.

Jetzt plötzlich kommt dieser Vorschlag wieder aus der Schublade heraus. Es gibt Experten im Auswärtigen Amt, im State Department, im Foreign Office, die diesen Vorschlag der Aufhebung des Vetorechts bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit wiederbeleben. Weil etwas ganz Neues geschehen ist: Der Syrien-Krieg ist nicht mehr ein ganz ferner Krieg zwischen fremden Völkern, sondern hat direkte, fürchterliche Konsequenzen im Inneren der Vetomächte.

Jean Zieglers Buch

ORF.at/Lukas Krummholz

Die Dschihadisten sind entstanden, wahnsinnige Massenmörder, ein reines Produkt des Syrien-Konfliktes. Die töten in München, in Berlin, in London, in Brüssel, in Boston, in St. Petersburg - und die können nicht gestoppt werden. Weil Terroristen sich selbst in die Luft sprengen, die kann man kaum kontrollieren.

Und dann gibt es die fünf Millionen syrischen Flüchtlinge, die an der Grenze Einlass nach Europa verlangen und auch das Recht haben, das Asylrecht geltend zu machen. Und weil die Europäische Union sich wie eine Delinquentin verhält und etwa den Orban nicht sanktioniert und auch nicht die anderen Halunken, die Flüchtlingen samt ihren Kindern nicht Schutz gewähren, sondern sie ins Gefängnis stecken.

Die EU tut nichts. Die EU-Grundwerte gehen so zugrunde. Wenn man nämlich Ungarn die Solidaritätsbeiträge in Milliardenhöhe streichen würde, käme der Orban sofort wieder zu Verstand. Es ist eine stille Komplizenschaft der Kommission, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es herrscht in Brüssel eine stille Komplizenschaft mit den Halunken im Osten.

Der Syrien-Konflikt produziert fürchterliche Konsequenzen. Die moralische Gesundheit der EU geht kaputt. Und der Terror passiert im Herzen der EU. Und aus diesem Grund, aus ganz egoistischen Gründen, sind jetzt die Vetomächte in der Phase der Prüfung, wie die Forderung von Kofi Annan umgesetzt werden könnte, damit die UNO aus der Lähmung herauskommt und endlich die multilaterale Diplomatie mit all ihren Methoden und Möglichkeiten diesen Krieg beenden kann.

ORF.at: Weg von den Staaten wieder zurück zu den multinationalen Konzernen und hin zur Frage des Klimawandels. Stephen Emmot, Klimaexperte und Mathematiker an den Unis Cambridge und Oxford, hat in seinem Buch „Zehn Milliarden“ ein sehr düsteres, faktengetränktes Szenario gezeichnet. Er ist sehr pessimistisch und geht nicht davon aus, dass die Wende noch geschafft wird. Es sei alles zu spät.

Ziegler: Ob es schon zu spät ist, weiß ich nicht, aber genau jetzt ist ganz sicher der letzte Moment, das Ruder herumzureißen. Wenn man sich die Luftqualität anschaut ... Die UNO-Klimakonferenz Cop 21 im Jahr 2015 samt der internationalen Vereinbarung über die Reduktion des Kohleeinsatzes, die Reduktion des CO2-Ausstoßes ... Wenn der Trump das kippt oder auch nur sabotiert, dann ist das lebensgefährlich für die gesamte Menschheit.

Und das egoistische Profitdenken der Konzerne, das ist ja verständlich, das ist der Dschungelkampf zwischen den Konzernen. Aber was nicht verständlich und nicht annehmbar ist, ist die Indolenz der Staaten, die Zwangsmaßnahmen ergreifen müssten, um die Umwelt zu retten, um den CO2-Ausstoß herunterzufahren, Kohlebergwerke zu schließen und so weiter.

Das hängt wiederum von uns allen ab. Österreich ist mit Sicherheit eine der lebendigsten Demokratien überhaupt, die österreichische Verfassung gibt den Bürgerinnen und Bürgern alle Waffen in die Hand, demokratisch und friedlich diese Grundsatzreformen durchzuführen. Wir alle können uns nicht darauf zurückziehen, dass wir ja ohnehin nichts tun können. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie, wenn wir von Orten wie Wien und nicht von Honduras oder Peking reden, wo das anders ist, weil diese Bürgerfreiheit dort nicht existiert.

Aber in Wien, Berlin, Genf, Paris, New York gibt es keine Entschuldigung. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Wenn der Planet überleben soll, ist das unsere Verantwortung.

ORF.at: Das passt zu einem anderen Thema Ihres Buches - dem Sinn des Lebens. Worin besteht der?

Ziegler: Tun, was man kann, dass diese kannibalische Weltordnung gestürzt wird, dass eine Welt der Gerechtigkeit, der Solidarität entsteht, dass das Identitätsbewusstsein zwischen den Menschen sich durchsetzt gegen die entfremdete Warengesellschaft. Eines der Hauptziele der Oligarchie des internationalen Finanzkapitalismus. Dass sie uns glauben machen wollen, dass menschliche Geschichte nicht mehr vom Menschen gemacht wird, sondern von Marktkräften, die wie ein Naturgesetz sind. Das ist der neue Obskurantismus!

Die neoliberale Wahnidee sagt: Die unsichtbare Hand des Marktes entscheidet über das Schicksal der Völker, nicht du und ich. Wir sollen an unsere eigene Ohnmacht glauben. Ich bin jedoch überzeugt, der Aufstand des Gewissens ist nahe. Che Guevara hat gesagt: Die stärksten Mauern fallen durch Wissen. Und die neue planetarische Zivilgesellschaft erweitert dieses Wissen überall.

Widerstand gibt es überall. ATTAC, Greenpeace, auf ganz vielen Fronten wird gegen den Raubtierkapitalismus gekämpft. Die Frauenbewegung, die Via Campesina von Kleinbauern und Tagelöhnern von Honduras bis Bangladesch, die kämpfen um ihre Rechte. Überall ist der Kampf im Gang. Hier in Wien, in Bolivien und so weiter - gegen diese kannibalische Weltordnung.

Jean Ziegler im Interview

ORF.at/Lukas Krummholz

ORF.at: Diese Bewegungen gab es in den 70er Jahren ja auch schon. Was macht Sie heute so hoffnungsvoll, dass der Aufbruch diesmal wirklich stattfindet?

Ziegler: Rein quantitativ ist die Zivilgesellschaft sehr gewachsen. Ganz sicher. Weil die Gefahr gewachsen ist. Die Umweltzerstörung ist ja so sichtbar. Die Krebsfälle steigen an. Jeder spürt die Folgen der künstlichen Nahrung. Die Biolandwirtschaft ist unglaublich viel stärker als noch vor zehn Jahren. Das Bewusstsein, dass Ernährung natürlich sein muss, steigt. Dass kollektive Bewusstsein über das, was getan werden muss, über das, was nötig und was wünschbar ist, ist ganz sicher gestiegen.

Die Thematik ist auch in den Medien gewachsen. Ökologie war früher so eine Sektenbewegung für seltsame Utopisten. Heute ist das ein Hauptthema in der öffentlichen Debatte. Beim letzten Weltsozialforum waren wir 65.000 Menschen, über 8.000 Gewerkschaften, Kirchen und soziale Bewegungen waren vertreten, es gab nicht einmal ein Schlusskomitee, es gibt keine Parteilinie, kein Zentralkomitee. Alle diese Widerstandsbewegungen kommen zusammen, für sechs Tage, gehen wieder auseinander, und der einzige Motor ist der moralische Imperativ: Ich bin der andere - der andere ist ich. Das macht sie unbesiegbar.

ORF.at: Unbesiegbar auch gegen die Gier, dieses Naturgesetz des freien Marktes?

Ziegler: Ja, und auch gegen Regierungen. Natürlich, es kann alles auch falsch laufen. Mit der Marine Le Pen, den Faschisten, den Orbans, der AFD, den xenophoben Bewegungen, der FPÖ in Österreich und so weiter. Die Sündenbocktheorie kann gewinnen. Die sagen ja: Euch geht’s schlecht - und wer ist schuld? Die Ausländer, die Flüchtlinge, weg damit. Die Sündenbocktheorie ist sehr verführerisch für gepeinigte Menschen, für verängstigte Menschen, für verzweifelte Menschen.

Wir müssen uns wirklich beeilen, um diesen Aufstand des Gewissens herbeizuführen. Und das gelingt!