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Zieglers „Aufstand des Gewissenes“

Jean Ziegler tourt mit seinem Buch „Der schmale Grat der Hoffnung“ durch die Lande. Der kämpferische Schweizer ist in die Jahre gekommen, scheint aber nichts von seiner Energie und produktiven Wut eingebüßt zu haben.

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Ziegler betritt das Kaffeehaus gegenüber dem Schloss Schönbrunn in aufgekratzter Stimmung. Im Verlauf des halbstündigen Gesprächs mit ORF.at wird er Che Guevara zitieren, mit leuchtenden Augen von den 65.000 Teilnehmern beim letzten Weltsozialforum erzählen, gegen die untätige UNO wettern, die Gier der Konzerne geißeln und den Kampf gegen die „kannibalische Weltordnung“ unserer Tage als Sinn des Lebens definieren.

Manch anderem würden Zyniker in so einem Fall vielleicht jugendliche Naivität vorwerfen. Aber nicht nur, dass Ziegler noch diesen April 83 Jahre alt wird. Er gilt auch als einer der erfahrensten Politiker und Diplomaten, wenn es darum geht, das große Ganze zusammenzudenken: die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge auf globaler Ebene, das Handeln in der Gegenwart und seine Auswirkungen auf die Zukunft, das Zusammenspiel von Mensch und Natur, den Reichtum der einen und die Armut der anderen.

Die Schauplätze des Ziegler-Feldzugs

Geboren wurde Ziegler 1934 als Hans Ziegler im Schweizer Thun. Von 1967 bis 1999 saß er mit einer kurzen Unterbrechung für die Sozialdemokraten im Schweizer Parlament, seither arbeitet er für die UNO, zuerst als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und als Mitglied der Taskforce für humanitäre Hilfe im Irak, dann als Mitglied des beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrats.

Jean Ziegler im Interview

ORF.at/Lukas Krummholz

Ziegler ist bemüht, einen Optimismus „trotz allem“ zu versprühen

Seit den 80er Jahren schreibt er zudem kämpferische Bücher zu den Themen seines Jobs, zuerst über die Schweiz als Insel der Seligen für internationales Finanzkapital und hinterzogene Steuergelder, später über die Ungerechtigkeit in der Welt. Nun ist bei C. Bertelsmann eine Bilanz seiner internationalen Bemühungen und gleichzeitig Zusammenfassung seiner politischen und privaten Philosophie erschienen: „Der Schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden“.

„Müssen uns wirklich beeilen“

Wenn es um Themen wie Hunger, Armut und Umweltzerstörung geht, gibt es zwei Gruppen: die Relativierer, die meinen, es passt eh alles so halbwegs, und außerdem gebe es ohnehin schon Fortschritte; und die anderen, die die Welt in brutalokapitalistischem Faschismus untergehen sehen und die finale Klimakatastrophe für demnächst vorhersagen. Ziegler nimmt eine Sonderstellung ein: Sinngemäß erklärt er, der Zustand der Welt sei katastrophal - um dann gegenüber ORF.at voller Optimismus zu konstatieren: „Wir müssen uns wirklich beeilen, um diesen Aufstand des Gewissens herbeizuführen. Und das gelingt.“

Buchhinweis

Jean Ziegler: Der Schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden. C. Bertelsmann, 320 Seiten, 20,60 Euro.

Dabei klingen seine Aufzählungen wie ein Stakkato des Grauens: „Die 85 reichsten Milliardäre der Welt haben 2015 so viele Vermögenswerte wie die ärmeren 4,5 Milliarden der Weltbevölkerung. Oder eine andere Zahl: Die 500 größten Privatkonzerne der Welt haben 2016 52,8 Prozent des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert, also aller in der Welt produzierten Reichtümer.“ Und: „Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Eine Milliarde Menschen sind fast permanent schwerst unterernährt von den 7,3 Milliarden, die wir sind. Derselbe Welthungerreport der FAO, der diese Zahlen enthält, besagt, dass die Landwirtschaft, so wie sie heute ist, problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte.“

„Widerwärtige Figuren“ in UNO

Auch wenn die Gewalt in Summe abnimmt: „Die Kriege, die es gibt, sind fürchterlich. Die Lähmung der UNO ist fürchterlich. Es gibt nicht enden wollende Konflikte, weil die internationale Gesellschaft nicht intervenieren kann wegen des Vetorechts.“ Als Beispiele nennt Ziegler den Krieg in Syrien, den bewaffneten Konflikt in Darfur und die Blockade des Gazastreifens. Lösungen würden auf dem Tisch liegen - aber von einzelnen Vetomächten blockiert, wegen egoistischer Eigeninteressen.

Jean Ziegler im Interview

ORF.at/Lukas Krummholz

Hoffnungsfroh und gnadenlos: Zieglers Grundhaltung

Viele Nettigkeiten richtet er im Buch seinen Arbeitskollegen bei der UNO aus: „Richtig ist auch, dass man in der UNO ständig bösartigen, widerwärtigen und korrupten Figuren begegnet. Und schließlich gibt es noch die tristen Bürokraten, die Heerschar skandalös überbezahlter Parasiten - gesichtslos, furchtsam und ewig unentschlossen.“ Aber: „Daneben ist (...) auch eine beträchtliche Anzahl ehrenhafter, mutiger und unbeirrbarer Menschen in der UNO tätig (...).“

TV-Hinweis

Jean Ziegler ist am Donnerstag um 23.05 Uhr zu Gast bei „Stöckl.“ in ORF2.

Die Verantwortung des Einzelnen

Ziegler bewahrt seinen (Zweck-)Optimismus auf drei Ebenen. Erstens: die internationale Ebene. Es gebe deutliche Anzeichen dafür, dass die UNO das Vetorecht im Sicherheitsrat im Fall von Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufhebt - aus Angst, dass sonst noch mehr Flüchtlinge durch Kriege nach Europa kommen. Zweitens hofft er, dass Regierungen endlich wieder die Macht der Konzerne reduzieren und das Steuer selbst in die Hand nehmen. Drittens setzt er ganz auf die Macht der Zivilgesellschaft und des Individuums.

Aber gab es nicht schon in den 70er Jahren einen weltweiten Aufstand der Linken gegen multinationale Konzerne und faschistische Tendenzen - und dennoch ist die Welt heute, wie sie ist? Ziegler erwidert, dass heute weitaus mehr Menschen Widerstand leisten würden als damals und Themen der Gerechtigkeit in der öffentlichen Debatte viel präsenter wären. Das könne auf Dauer nicht einfach ignoriert werden.

Sein „Aufstand des Gewissens“ erledigt sich nicht von selbst. Jeder Einzelne, so Ziegler, sei in der Pflicht: „Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie, wenn wir von Orten wie Wien und nicht von Honduras oder Peking reden, wo das anders ist, weil diese Bürgerfreiheit dort nicht existiert. Aber in Wien, Berlin, Genf, Paris, New York gibt es keine Entschuldigung. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Wenn der Planet überleben soll, ist das unsere Verantwortung.“

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