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„Aussprache“ ohne Worte

Wie lässt sich aus einem Stück ein Ballett machen, wenn das Entscheidende vor der Bühnenhandlung passiert und man keine Worte zur Verfügung hat? Mit einer Auflösung von Zeit und Raum, so die Antwort der norwegischen Regisseurin Marit Moum Aune, die aus dem Klassiker „Gespenster“ von Henrik Ibsen so etwas wie die Basisform einer verdichteten dramatischen Geschichte gemacht hat, die ohne Erklärung auskommt.

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Ibsens „Gespenster“ ist nicht nur in Norwegen ein Bühnenklassiker, der ohne große Synopsis auf die Bühne gebracht werden kann, weil der Plot dem Publikum in Erinnerung ist. Die Helden Ibsens betreten die Bühne und werden von ihrer Geschichte eingeholt und am Ende erdrückt. „Nur in sich vergraben, von der Lebenslüge zehrend, konnten Ibsens Menschen leben“, beschreibt der große Dramentheoretiker Peter Szondi diese Eingeschaft Ibsens und fügt hinzu: „Dass er sie (seine Helden, Anm.) nicht in ihrem Leben ließ, sondern zur Aussprache zwang, tötete sie.“ Der Dramatiker werde, so Szondi, zum Mörder seiner eigenen Geschöpfe.

„Gespenster“ als Ballett

Beim traditionellen Osterklang-Festival stehen heuer Tanzproduktionen des norwegischen Nationalballetts im Mittelpunkt. Zum Auftakt gibt es einen dunklen Ibsen am Theater an der Wien.

Ein Klassiker in der Bearbeitungsmühle

Immer wieder hat das Theater in der Umsetzung dieses Klassikers andere Kunstformen bemüht - man denke etwa an Thomas Ostermeiers auch hierzulande bei den Wiener Festwochen gefeierte Schaubühnen-Umsetzung des Klassikers „Nora, ein Puppenheim“, bei dem auf der Bühne mit allen Elementen eines Filmmelodrams und langen Musikstrecken im Bereich der Szenenwechsel gearbeitet wurde.

Szene aus "Ghosts"

Theater an der Wien

Drei Zeitebenen in einem Stück: Im Phantasma der Helden könnte zunächst auch alles gut ausgehen

Beim Gastspiel des norwegischen Nationalballetts beim Osterklang-Festival im Theater an der Wien wagt Regisseurin Aune ein besonderes Experiment. Sie empfindet das Haus der Familie Alving in schwarzer Skelettform nach und lässt Vorgeschichte, möglichen positiven Geschichtsverlauf und Ausgang in einer Zeitebene aufeinanderprallen.

Osvald und Regine: Gedoppelte Entdeckung

Die Haupthelden Osvald und Regine, die sich als Liebende entdecken möchten, aber herausfinden müssen, dass sie Halbgeschwister sind, begegnen einander als Erwachsene und sich selbst in einem Zeitraum. Die minimalistische Musik des Trompeters Nils Petter Molvaer, der für dieses Ballett auch eine Sequenz seines ersten großen Soloerfolges „Khmer“ heranzieht, verdichtet diese Konfrontation der Charaktere mit ihrem einstigen Selbst in schonungslos direkter Form. Keine Ausflüchte sind möglich - und Theater als Ballett lässt vor allem Geschichten in figürlicher Körperlichkeit aufeinanderprallen.

Viel Applaus für die ganz jungen Tänzer

Es sind die Kindheitsdoppel von Osvald und Regine, die jungen Tänzer Kristoffer Ask Haglund und Erle Ostrat, die in dieser Versuchsanordnung zwischen klassischem Ballett, Modern Dance und stummem Theater die eindrücklichsten Performances abliefern. Als unschuldige Horrorclowns stehen sie da und zeigen gerade tänzerisch, dass sie sich von den Erwachsenen nicht nachträglich verbiegen lassen. Im Gegenteil: Schicksalshafte Geschichte ist vorgezeichnet. Und der abwesende, tote Vater, er ist durch seine einstige Grenzübertretung bestimmende Person für das weitere Schicksal.

Klare Strukturen, minimalistische Musik

Eindrucksvoll sind die Pas-de-deux, in denen sich die Schicksalspaare der Geschichte aneinander reiben - und immer voneinander abstoßen. Hier ist kein Happy End möglich - aber immerhin die schonungslose Aufdeckung von Strukturen so rasch klar, dass dieses Theater keine Konfliktverdrängung zulässt.

Hinweis

„Gespenster“ ist im Rahmen des Osterklang-Festivals im Theater an der Wien noch am 4. April zu sehen.

Neben all dem steht Molvaer in einer fast unbeteiligten Unschuld mit seiner Trompete auf der Bühne. Die musikalische Arbeit, mit der er vor genau zwei Jahrzehnten hervorgetreten ist und die nordisch-sphärischen Jazz mit Musiksamples verband, trägt an diesem Abend späte Früchte. Es ist so etwas wie die Essenz von Ibsen, die man hier schonungslos und massiv ins Gesicht gedrückt bekommt.

Szene aus "Ghosts"

Theater an der Wien

Der Herr Pastor zwingt zum besonders schmerzhaften Blick auf die Vergangenheit

Es ist vor allem und Gott sei Dank nichts, was man heute gerne mit dem Wort Multimediaspektakel versieht. Belohnt wurde hier der Mut zum Geschichtenerzählen, das alle Zeit und Logikebenen hinter sich lässt und ein Stück in der Essenz verdichtet. Das eingeschworene, überschaubare Publikum bei der Premiere am Montag spendete so anhaltenden Applaus wie schon lange nicht gesehen auf der Opernbühne an der Wien.

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