„Haben die Kraft für Neustart“
Mit der Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung haben die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Mitgliedsstaaten am Samstag in Rom ein Bekenntnis zur Zukunft der Union gegeben. EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker riefen die anwesenden Politiker dazu auf, sich auf die Gründungsprinzipien des Staatenbunds zu besinnen.
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Die Erklärung kommt wenige Tage bevor die britische Premierministerin Theresa May den Austritt ihres Landes aus der EU einleiten will. Großbritannien ist aus diesem Grund auch nicht beim Gipfel in der italienischen Hauptstadt dabei, der im Zeichen des 60. Jubiläums der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahr 1957 stattfindet. Die Römischen Verträge durch sechs Gründungsmitglieder hatten damals zunächst zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und später zur EU geführt.
Tusk: „Beweist, dass ihr die Anführer seid“
In seiner Eröffnungsrede zum Auftakt des Gipfels hatte Tusk die Staats- und Regierungschefs dazu aufgerufen, eine Führungsrolle zu übernehmen. „Beweist heute, dass ihr die Anführer Europas seid, dass ihr euch um dieses große Erbe kümmern könnt, das wir von den Helden der europäischen Einheit vor 60 Jahren übernommen haben“, sagte Tusk. Europa als eine politische Einheit werde es entweder „vereint oder gar nicht“ geben.

APA/AP/Alessandra Tarantino
Ratspräsident Tusk bei seiner Rede beim EU-Gipfel
Der Ratspräsident appellierte an die EU-Länder, sich auf die Gründungsprinzipien des Staatenbunds zu besinnen, statt sich von verschiedenen Ansichten zur EU ablenken zu lassen. Damals hätten die Gründungsväter weder „über verschiedene Geschwindigkeiten diskutiert“ noch sich mit Austrittsgedanken beschäftigt, sondern trotz der „tragischen Umstände der jüngsten Geschichte ihren ganzen Glauben in die Einheit Europas gesteckt“.
Juncker äußert sich zuversichtlich
Juncker sah in der Rom-Erklärung ein gutes Startsignal für eine Diskussion über die Zukunft der Staatengemeinschaft. Er sprach von „Aufbruchstimmung“, weil es zu keiner größeren Auseinandersetzung gekommen sei über mehrere denkbare Zukunftsszenarien. Nun könne die EU eine Debatte über den weiteren Weg beginnen. „Die Atmosphäre ist jetzt so, dass man das mit Zuversicht angehen kann“, sagte Juncker. Zuvor hatte er Europa aufgefordert, eine gemeinsame „Perspektive“ nicht aus den Augen zu verlieren.
Derselbe Stift, 60 Jahre später
Für die Unterschrift unter die Gipfelerklärung nutzte Juncker jenen Stift, mit dem vor 60 Jahren der Vertreter Luxemburgs die Römischen Verträge unterzeichnet hatte. „Es gibt Unterschriften, die andauern“, sagte Juncker.
Das heutige Europa sei mit komplizierteren Herausforderungen konfrontiert, an die die Gründungsväter nicht gedacht hätten. Juncker rief die Europäer auf, stolz auf die EU zu sein. „Nach so vielen Kriegen, warum sind wir nicht auf diese lange Zeit des Friedens stolz?“, fragte Juncker. „Wir dürfen nicht vergessen, was diese Generationen für die Stabilisierung Europas geleistet haben, was wir alles in Europa erreicht haben“, so Juncker.
Den bevorstehenden „Brexit“ nannte Juncker eine „Tragödie“ und sagte: „Das ist ein trauriger Vorgang. Ich finde mich eigentlich nicht damit ab, dass die Briten aus der Europäischen Union austreten.“ Gleichwohl prophezeite er der EU eine große Zukunft. „Es wird einen 100. Geburtstag der Europäischen Union geben“, sagte er schon vor dem Festakt.
EU noch nicht „reif für die Pension“
Auch andere Teilnehmer schlugen einen positiven Ton an. Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite sagte: „Europa war immer Herausforderungen ausgesetzt, aber es hat alles überdauert und es wird für immer halten.“ Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel betonte, die EU sei mit „60 noch nicht reif für die Pension“. „Wir haben ein Familienmitglied weniger heute“, fügte er hinzu. „Aber für mich heißt das weiterarbeiten - vielleicht auch andere Möglichkeiten.“
Italiens Regierungschef Paolo Gentiloni forderte die EU auf, ihre „absurde Teilung“ zu überwinden und einen Neustart zu wagen. Es müsse Schluss sein mit dem Zerwürfnis „zwischen Süden und Norden, zwischen Groß und Klein“, sagte der Gastgeber in Rom. „Wir haben die Kraft für einen Neustart“, sagte Gentiloni.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hob indes die Notwendigkeit eines sicheren und starken Europas hervor. „Wir wollen ein sicheres Europa, ein schützendes Europa, wir müssen unsere Außengrenzen besser schützen, wir wollen ein wirtschaftlich starkes Europa“, sagte Merkel. Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten bedeute keinesfalls, „dass es kein gemeinsames Europa ist“.
Kern erwartet heuer keine großen Fortschritte
Nach der 60-Jahr-Feier der EU erwartet Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) in diesem Jahr indes noch keine großen Fortschritte. In einem Jahr, in dem es in Frankreich und Deutschland Wahlen gebe, müsse man „realistisch sehen, dass wir in diesem Jahr nicht auch zu tollen Ergebnissen kommen können“, sagte Kern. „Es war wirklich beeindruckend zu sehen, wie groß eigentlich das gemeinsame Verständnis ist, hier zusammenzustehen, hier gemeinsam in die Zukunft zu gehen. Stillstand ist keine Lösung“, sagte der Bundeskanzler.
Große Feier zum Jubiläum
In Abwesenheit von Großbritannien wurde am Samstag der 60. Jahrestag der Römischen Verträge gefeiert. Sechs Staaten haben damals den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaften unterzeichnet.
„Ich denke schon, dass man aus so einem Anlass Energie beziehen kann, um die Europäische Union weiterzuentwickeln. Sie dürfen nicht erwarten bei einer feierlichen Zeremonie, dass die Probleme, die jahrelang dahinköcheln, hier gelöst werden können“, sagte Kern. „Es ist jetzt einmal ein Fundament und ein gemeinsames Verständnis, dass es Schwierigkeiten gibt, unterschiedliche Auffassungen. Diese Konflikte braucht man gar nicht kleinreden.“
Kern betonte, die europäischen Politiker hätten die Verpflichtung der Gründerväter übernommen, die EU weiterzuentwickeln. Probleme sah er in der Distanz zwischen der EU-Politik und der Bevölkerung. Über eine Kommunikationsstrategie in Österreich will Kern mit Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) sprechen. Vorbild könnte die EU-Kampagne der Regierung vor dem EU-Beitritt Österreichs 1995 sein, sagte er. „Es ist die Zeit gekommen, wo wir wieder nachdenken müssen.“
Papst gegen „Blüten des Egoismus“
Papst Franziskus hatte die Europäische Union bereits am Freitag eindringlich zu Solidarität und Zusammenhalt aufgerufen. Bei einer Audienz für die Staats- und Regierungschefs der EU im Vatikan sagte der Papst, Solidarität sei das wirksamste Heilmittel gegen die modernen Formen des Populismus, dürfe aber nicht nur aus Worten bestehen. „Die Solidarität ist nicht nur ein guter Vorsatz. Sie ist gekennzeichnet durch konkrete Taten und Handlungen“, betonte er. Populistische Strömungen seien dagegen „Blüten des Egoismus“.
Hohe Sicherheitsvorkehrungen
Die Sicherheitsvorkehrungen in Rom sind hoch. Der Stadtkern um den Kapitol-Hügel wurde in eine „blaue Zone“ umgewandelt, nach der Farbe der europäischen Fahne, in die weder Autos noch Fußgänger hineindurften. 3.000 Soldaten, Carabinieri und Polizisten sind bei Anti-Terror-Kontrollen im Einsatz. Unzählige Videoüberwachungsanlagen wurden in der Innenstadt aufgestellt. Hubschrauber mit Bewaffnung sollen gegen Drohnen oder Flugzeuge mit feindlichen Absichten eingesetzt werden.
Lastwagen wurden aus dem Stadtzentrum verbannt. Auch Mülltonnen wurden aus Sicherheitsgründen entfernt. Einige Metro- und Busstationen wurden nicht angefahren. Das Kolosseum wurde geschlossen, die archäologischen Stätten rund um den Palatin-Hügel waren ebenfalls zu. Am Samstag gab es Protestkundgebungen von EU-Befürwortern und -Gegnern.
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