„Wenn ich sage, ihr müsst euch fürchten ...“
Allein, dass das Innenministerium den Überblick über die polizeilichen Anzeigen des abgelaufenen Jahres als „Entwicklung der Kriminalität“ in Österreich präsentiert, ist aus Sicht von Experten fragwürdig. Schon vor der Präsentation der neuen Anzeigenstatistik am Montag übten sie vehemente Kritik an dem Gemenge aus „Kraut und Rüben“-Zahlen, das zudem eine objektive Überprüfung vermissen lasse.
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„Kraut und Rüben“-Feld nannte der Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl gegenüber der APA etwa die Rubrik Cybercrime. Darin würden so ziemlich alle Straftaten fallen, bei denen ein elektronisches Gerät als Tatmittel verwendet wird: die Pensionistin, die im Onlineshop ein Produkt bestellt und nicht bezahlt, genauso wie eine DDOS-Attacke auf den Flughafen. In vielen anderen Bereichen ist es nach Meinung von Experten nicht viel besser.
Plus von Anzeigen kann viele Gründe haben
Das politisch weidlich thematisierte Thema Ausländerkriminalität etwa weist auch statitistisch wackelige Komponenten auf. Die gemessen am Bevölkerungsdurchschnitt überdurchschnittliche polizeiliche Durchdringung der Lebensbereiche etwa von Asylwerbern führt auch zu mehr Anzeigen. Vereinfacht gesagt: Auch Inländer würden öfter angezeigt, wären Behörden bei ihnen ebenso stark präsent.
Steigende Zahlen von tatverdächtigen Asylwerbern resultieren zudem aus der gestiegenen Gesamtzahl von Flüchtlingen, vor allem aber aus der Verfahrensdauer: Noch Anfang 2015 musste ein Asylwerber im Schnitt drei Monate auf die Erledigung seines Verfahrens warten, Ende 2016 war es dreimal so lang. „Das sind neun Monate in prekären Wohnverhältnissen“, so der am Vienna Center for Societal Security (VICESSE) tätige Kreissl.
Die entsprechenden Delikte verlassen zudem nur selten das engere Lebensumfeld. Sie seien „intrakulturell“, Täter und Opfer kommen also aus demselben kulturellen und/oder sozialen Kreis. Das ließe sich zwar leicht damit erklären, dass das Aggressionspotenzial bei neun Monaten in prekären Wohnverhältnissen ohne Rückzugsmöglichkeit und Privatsphäre - und das bei oft traumatisierten Menschen - steigt. Untersuchungen dazu gebe es in Österreich aber bisher nicht, wie Kreissl sagt.
Ohne kritischen Blick von außen
Überhaupt kritisieren Experten, dass die heimische Anzeigenstatistik nicht als kriminalsoziologische Grundlage tauge. Versprechungen einer wissenschaftlich fundierten „Kriminalstatistik neu“ würden seit Jahren nicht eingelöst, bemängelt Kreissl. Initiativen in Teilbereichen seien bisher entweder im Pilotstadium stecken geblieben, oder man kontrolliere sich quasi selbst, etwa bei der Evaluierung des Community-Policing-Projekts „Gemeinsam sicher“.
Zahlen, die sich selbst erhöhen
Unschärfen gibt es aber schon bei den Möglichkeiten für den Eintrag in die „Kriminalstatistik“. Ausländische Verdächtige könne man etwa eintragen als Arbeitnehmende, Asylwerbende, Fremde ohne Beschäftigung, Familiengemeinschaft in Österreich, unrechtmäßig Aufhältige, Schülerschaft/Studierende, Selbstständige oder Touristen - eine unwissenschaftliche „Vermengung von Berufsangaben und Aufenthaltsstatus“, so Kreissl.
Außerdem sei die einzig wirklich seriöse Angabe zur „Ausländerkriminalität“ ein Abgleich fremder Tatverdächtiger mit der Wohnstatistik. Ohne diesen Vergleich weisen alle Wohngegenden mit höherem Ausländeranteil automatisch auch eine höhere „Ausländerkriminalität“ auf. Dafür wiederum müssten aber all diejenigen herausgerechnet werden, die keine aufrechte Meldung in Österreich hätten, da auch dadurch eine Verschiebung der Gewichtung hin zu Ausländern geschieht.
Keine Daten über Polizei selbst
Komplett fehlen in Österreich laut Kreissl „police performing indicators“: „Fragen wie ‚wie arbeitet die Polizei‘, ‚wie viele Notrufe gibt es‘, ‚welche Art von Notrufen ist vorherrschend‘, ‚wie lange braucht die Polizei, um beim Bürger zu sein‘, ‚wie viele Polizeiübergriffe wurden gemeldet und wie ist man damit umgegangen‘ fließen nicht ein. Es gibt keine Kundenzufriedenheitsbefragung“, bemängelt Kreissl.
Keine Details, auch nicht auf Nachfrage
Der Kriminalsoziologe wies vor allem auf die selektive Veröffentlichung der Daten der Anzeigenstatistik hin: „Die Daten werden für die eigene Verwendung zurückgehalten. Damit wird auch eine unabhängige Evaluierung verhindert.“ Und es gebe eine „Argumentation mit Zahlen, die nicht haltbar sind“. Als Beispiel brachte Kreissl den in jüngerer Vergangenheit öfters gehörten Satz „sieben von zehn Frauen fürchten sich“.
„Wenn man nachfragt, bekommt man die Zahlen nicht. Es gibt keine Evidenzen, aber es gibt die Strategie ‚Governing through crime‘: wenn ich sage, ihr müsst euch fürchten, versammelt euch hinter mir, ich mache das schon“, sagte der Experte. Er wies im Übrigen darauf hin, dass Sexualdelikte großteils innerhalb der Familie verübt werden. Zuletzt waren mehrere Fälle schwerer sexueller Übergriffe im öffentlichen Raum diskutiert worden.
Je mehr Kontrollen, desto mehr Anzeigen
Ohnehin krankt die Statistik daran, dass Laien die Anzeigen und deren Häufung mit der Kriminalität an sich verwechseln, die streng genommen nur rechtskräftige Verurteilungen enthalten dürfte. Je mehr kontrolliert werde, desto mehr Anzeigen gebe es, so Kreissl unter Verweis etwa auf Suchtgiftdelikte, wo der neue Tatbestand „Drogenhandel im öffentlichen Raum“ eine zusätzliche Häufung von Anzeigen bedeute, die nicht unbedingt einen Anstieg der Kriminalität bedeuten müssen.
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