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Finnlands Literaturpopstar

„Die Sache mit Norma“, der fünfte Roman von Sofi Oksanen, der estnisch-finnischen Literaturikone, ist ein packender Thriller rund um Haarverlängerung, Leihmutterschaft, die Schönheitsindustrie und die Ausbeutung von Frauen.

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Norma hat ein Geheimnis, das sie mühevoll unter einem Turban zu verbergen versucht: Ihre Haarpracht führt ein Eigenleben. Die Strähnen kringeln sich bisweilen wie „Korkenzieher“, manchmal aber auch wie „Schlangennester“ oder „Würmer auf heißem Asphalt“. Was Norma oft in Bedrängnis bringt, denn ihre Haare spiegeln unwillkürlich ihren Emotionshaushalt wider, sie rebellieren also gerade dann, wenn Norma Bedrohung spürt. Und noch etwas: Ihr Wachstum ist außergewöhnlich und extrem. Die Haare sprießen mehr als einen Meter innerhalb von 24 Stunden. Das ist „Die Sache mit Norma“, die dem Buch den Titel gegeben hat.

Die geheimnisvolle „Haarflut“ war außer Norma nur ihrer Mutter bekannt. Die beiden lebten eng aufeinander bezogen, zurückgezogen im Helsinkier Viertel Kallio. Jetzt aber ist die Mutter tot, sie soll Suizid begangen haben. An dieser Stelle, genauer bei dem Begräbnis der Mutter setzt Oksanens neuer Roman ein, dort kommt Norma erstmals mit einem verdächtigen Clan in Kontakt, um den sich schließlich das Buch verdichtet.

Popstar der nordischen Literatinnen

Von Oksanen, dem Popstar der nordischen Literatinnen mit inzwischen fast 35.000 Facebook-Fans, kennt man bereits kraftvolle und packende Frauengeschichten. Ihr Debüt „Stalins Kühe“ handelte etwa von einer estnischstämmigen Protagonistin, die mit Bulimie, der Vergangenheit ihres Herkunftslandes und seinem schlechten Image in Finnland zu kämpfen hat.

In „Fegefeuer“, dem Roman, der ihr schließlich 2009 den internationalen Durchbruch verschaffte, ließ Oksanen eine alte, griesgrämige Bäuerin auf eine junge Frau treffen. Wieder starke Protagonistinnen, und auch hier war Estland der Ort und das Thema der Handlung, das Land ihrer eigenen Mutter: Oksanen erzählte von der Gegenwart zurück bis zur russischen Okkupation, ein oft wenig beachtetes Geschichtskapitel.

Magischer Realismus

In „Die Sache mit Norma“ ist Oksanens feministischer Drive ebenfalls eindeutig zu spüren. Um Schönheitsideale, Fruchtbarkeit und die Ausbeutung von Frauen geht es diesmal, statt Estland ist Finnland der Schauplatz – aber nicht nur, denn der Mafia-Clan agiert international, in der Ukraine, in Russland und auch in Thailand. Oksanen hat diese auch im wörtlichen Sinne haarige Geschichte in einen eigenwillig betörenden Thriller verpackt, der in Gefilde des magischen Realismus vorrückt, ins Paranormale und Mystische, dabei im Grunde aber immer auch realistisch bleibt, gesellschaftskritisch, aktuell.

Apropos Haare: Wenn man von den sich kringelnden, schwer zu bändigenden Strähnen Normas liest, dann muss man fast unweigerlich auch an die Autorin selbst denken. Oksanen ist eine Erscheinung, die sich zu inszenieren weiß: schwarze Kleidung, weiß geschminkte Haut, glitzernder Lidschatten und ein wildes Nest aus langen, schwarzen Dreadlocks, aus denen türkisblaue und grellviolette Strähnen ragen.

Buchcover "Die Sache mit Norma"

Kiepenheuer & Witsch

Buchhinweis

Sofi Oksanen: Die Sache mit Norma. Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 22,70 Euro.

Der Mafia-Familie auf der Spur

Zurück zum Plot der Geschichte: Noch auf dem Friedhof lernt Norma Max Lambert kennen, angeblich ein alter Freund ihrer Mutter, der ihr unangenehm zu nahe kommt. Wie sich später herausstellt, ist er Inhaber des Haarsalons Haarzauber, in dem die Mutter zuletzt auch arbeitete. Was diesen Lambert anbelangt, ist Norma von Beginn an skeptisch und auch ihre Haare schlagen Alarm.

Aber sie ist arbeitslos und will außerdem herausfinden, was hinter dem mysteriösen Tod ihrer Mutter steckt. Also fängt sie selbst bei Haarzauber zu arbeiten an und erfährt bald vom zweiten Standbein des Familienbetriebs: eine Leihmutterschaftsvermittlung in der Ukraine. Und mehr und mehr gerät Norma in die Fänge dieses Clans.

Fantastische, fantastisch spannende Geschichte

Bei diesem Buch braucht man vielleicht anfangs ein wenig, bis man in die Geschichte einsteigt. Die Szenen der ersten Kapitel sind vor allem mit Andeutungen gespickt, die Protagonisten noch unscharf und die Story deswegen etwas irritierend: Ein Clan rund um Haarverlängerungen? Echt jetzt? Doch dann, spätestens ab Seite 60, packt einen der Sog dieser fantastischen, fantastisch spannenden Geschichte.

Man spürt die düstere, eigenwillige Welt dieses Mafia-Clans förmlich, die Gefahr, die von Lambert und seiner Familie ausgeht. Norma positioniert sich da kämpferisch: „Heute haben wir Frauen die gleichen Rechte, die gleichen Möglichkeiten wie die Männer und streichen trotzdem keine Gewinne ein. Wir liefern nur das Material für die verschiedenen Zweige des Schönheitsgewerbes, wie geben unsere Arbeitskraft, unser Gesicht, unsere Haare, unsere Gebärmutter, unsere Brüste, und nach wie vor stecken sich Männer die Scheine, die sie dafür bekommen, in die eigenen Taschen.“ Die Ausbeutung von Frauen – das Thema ist beileibe nicht neu. Aber wie Oksanen davon erzählt, das ist außergewöhnlich, rhythmisch, kraftvoll und mitreißend.

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