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Spekulation über weiterentwickeltes Gift

Warum sollte Nordkorea für einen ausgeklügelten Giftmord an Kim Jong Nam ausgerechnet zwei junge Frauen heuern, die die Tat vor Dutzenden Videokameras ausführten und von denen man vermuten musste, dass sie bald verhaftet werden? Diese Frage stellen sich die malaysischen Ermittler nach der Tat und haben eine mögliche Antwort: weil Nordkorea entdeckt werden wollte.

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Die beiden Frauen unternahmen nichts, um ihre Spuren zu verwischen, im Gegenteil: Eine von ihnen trug bei der Tat etwa ein äußerst auffälliges T-Shirt. In Verhören gaben sie an, sie seien auf dem Flughafen angesprochen und mit 400 Ringgit (85 Euro) dazu überredet worden, einen bestimmten Mann mit „Babyöl“ einzureiben. Laut den malaysischen Ermittlern wurde Kim Jong Nam mit dem hochgefährlichen Nervengift VX ermordet. Es müsste sich allerdings um eine Weiterentwicklung der Substanz handeln.

Warum gibt es keine anderen Opfer?

Nordkorea hatte Malaysias Behörden schon vor dem Nachweis von VX kriminalistischen Dilettantismus vorgeworfen: Unmöglich hätten die Täterinnen bei einem derartigen Giftmord selbst unbeschadet bleiben können, wurde argumentiert. Dasselbe gelte für Passanten in der Umgebung des Mannes und etwa auch für Flughafensanitäter, an die er sich um Hilfe gewandt hatte, bevor er das Bewusstsein verlor und starb.

Ermittler am Flughafen Kuala Lumpur

APA/AP/Daniel Chan

Der Flughafen wurde nach Abschluss der Untersuchungen am Sonntag für sicher erklärt

Tatsächlich ist der Kontakt mit VX, dem gefährlichsten bekannten Nervengift der V-Gruppe, innerhalb kürzester Zeit unausweichlich tödlich. Es wird über die Haut aufgenommen. Keine der beiden Frauen trug Handschuhe, als sie das Opfer von hinten überraschten und ihm einen mit Flüssigkeit getränkten Lappen ins Gesicht rieben. Das einzige Symptom, das eine der Täterinnen zeigte, war schwere Übelkeit unmittelbar nach der Tat. VX kann jedoch in zwei Komponenten aufgespaltet werden.

„Leichtgläubige“ Täterinnen

Dass VX in zwei Komponenten aufgespaltet werden kann, die erst zusammen ihre tödliche Wirkung entfalten, ist bekannt. Auch dann hätte die Substanz nach bisherigem Wissen aber etwa die zweite der zwei Täterinnen und die Sanitäter in Mitleidenschaft ziehen müssen. Hier setzt die Theorie der Ermittler an: Demnach wäre Hauptzweck des Attentats, dass Nordkorea eine Weiterentwicklung von VX in größtmöglicher Öffentlichkeit zeigen wollte.

Die Auswahl möglichst unbedarfter Täter oder Täterinnen würde unter diesen Umständen in den Plan passen. Schon seit ihrer Verhaftung beschwören die beiden Frauen, sie hätten geglaubt, an einem Sketch für eine „Versteckte Kamera“-TV-Show mitzuwirken. Laut den Angaben der 28-jährigen Vietnamesin und der 25-jährigen Indonesierin wurden sie auf dem Flughafen angesprochen. Selbst ihre Verwandten beschreiben sie in Interviews als „naiv“, „schreckhaft“ und „leichtgläubig“.

Rache möglicherweise nur Nebeneffekt

Stimmt die These der Ermittler, wäre der Mord an Kim Jong Nam nur am Rande die Rache des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Un an seinem ungeliebten, aus dem Exil immer wieder Kritik übenden Halbbruder - sondern eher mit den Provokationen nordkoreanischer Raketentests vergleichbar, mit denen die Diktatur Stärke zeigen und sich auf dem internationalen Parkett damit mehr Gewicht verleihen will.

Bilder der Überwachungskamera zeigen Kim Jong Nam

APA/AP/Fuji TV

Die Kameras hielten fest, wie Kim Jong Nam nach dem Attentat beim Flughafenpersonal Hilfe sucht

Experten haben Zweifel

Laut der Einschätzung von Südkorea hat Nordkorea eines der größten Arsenale verbotener Kampfstoffe weltweit, mit angeblich bis zu 5.000 Tonnen Sarin, Senfgas, Tabun und Blausäure - zusätzlich zu Nervengiften der V-Gruppe. Allerdings bezweifeln manche südkoreanische Experten die These vom bewusst öffentlichen Giftmord. Wenn Nordkorea auf internationaler Ebene als aktives C-Waffen-Land gelte, würden „die Dinge für Pjöngjang nur noch komplizierter“, meinte etwa der Universitätsprofessor Chang Yong Seok gegenüber der US-Nachrichtenagentur AP.

Chemiker können wiederum kaum glauben, dass Nordkorea VX so weit entwickelt haben könnte. Sie verweisen darauf, dass sich die zwei Komponenten des Kampfstoffes nur schwer synthetisieren lassen. Wenn Nordkorea es tatsächlich geschafft haben sollte, den Kampfstoff so weiterzuentwickeln, dass das Opfer mit Sicherheit getötet wird und die Täter überleben, dann nur um den Preis umfangreicher Tests an Menschen zuvor, so deren Einschätzung.

Dosis offenbar sehr hoch

Kim Jong Nam ist laut Malaysias Gesundheitsminister Subramaniam Sathasivam jedenfalls mit einer hohen Dosis VX getötet worden. Er sei innerhalb von 15 bis 20 Minuten gestorben, das gehe aus den ersten Ergebnissen der Autopsie hervor, sagte der Minister. Von VX müssten „nur 10 Milligramm absorbiert werden, damit es tödlich ist, also nehme ich an, dass die Dosis höher gewesen ist“. Kims Haut habe das Gift sehr schnell aufgenommen. „Die Dosis war so hoch, es ging so schnell und im ganzen Körper ... sie hätte sein Herz angegriffen, seine Lungen, sie hätte alles angegriffen.“

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