Trichternetzspinnen in Oberlaa
Mit „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“ beschert uns der polnisch-österreichische Heimatfachmann Radek Knapp auf knapp 130 Seiten tiefe Einblicke ins Wiener Leben. Erzählt wird aus der Perspektive eines sympathischen wie leichtlebigen Migranten - eine Leseempfehlung.
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Dass ihn seine Mutter nach einem Beruhigungsmittel nannte, war für Walerian schon von Anfang an eine gewisse Hypothek. Viel gravierender ist aber, dass diese Mutter, die „unberechenbar wie eine nordkoreanische Atombombe“ war, ihn eines Tages aus der Obhut der Großeltern entreißt und von Polen nach Wien entführt.
Dort muss der zwölfjährige Walerian ein neues Leben beginnen – und sich schlussendlich auf die Suche nach „gehaltvoller Nahrung“ begeben, sprich: sich festen Boden unter den Füßen verschaffen. Um die Emanzipation von der „Luftdiät“ des Elternhauses und der Institutionen geht es also, so erklärt Knapp den Titel von „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“ im ORF.at-Gespräch.
Witz, Pfiff, Humor
Elke Heidenreich schrieb vergangenes Jahr: „Seit seinem Debüt liebe ich Radek Knapp, der immer noch mit dem fassungslosen Blick eines Heranwachsenden auf die Welt sieht.“ Dieses Debüt war 1994. Mit dem Erzählband „Franio“ hatte Knapp, der vor über 40 Jahren von Warschau nach Österreich kam, damals den renommierten aspekte-Literaturpreis erhalten. 1999 folgte der Besteller „Herrn Kukas Empfehlungen“, mit dem er sich einem Genre zuwandte, das zu seiner Spezialität geworden ist: die migrantische Schelmengeschichte, liebevoll, gut gelaunt und lakonisch erzählt. „Witz, Pfiff, Humor“, so beschrieb Marcel Reich-Ranicki Knapps Schreibstil vor gut 20 Jahren. Gültig ist das noch immer.
Auch diesmal ist es also eine Migrationsgeschichte geworden, eine Geschichte des Ankommens, des Suchens einer „eigenen Heimat“. Nach einem kurzen Ausflug ins Detektivgenre vor fünf Jahren hat sich Knapp in „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“ damit wieder seine Biografie vorgeknöpft. Einige Handlungsstränge mögen einem deshalb vielleicht bekannt vorkommen. Darauf angesprochen erklärte Knapp: „Ich finde, man sollte nur über Dinge schreiben, von denen man etwas versteht.“
„Mein Gewehr hat eine Ladehemmung“
Radek ist also Walerian. Aber der Reihe nach: Das Wiener Leben des sympathischen wie leichtlebigen Ich-Erzählers beginnt in der Hauptschule Märzstraße, dem B-Zug, wo das Lernen nicht unbedingt großgeschrieben wird. Die Schultage verbringen Walerian und seine Kollegen vorwiegend damit, „unsere zehn Finger zu zählen und die Wolken hinter dem Fenster auf ihre strukturellen Eigenheiten zu untersuchen“.
Walerians Deutschkenntnisse beschränken sich anfangs auf die beiden Sätze „Wo ist Sturmbannführer Stettke“ und „Mein Gewehr hat eine Ladehemmung“, die er in Polen aus alten deutschen Kriegsfilmen aufgeschnappt hat. Mit ihnen übersteht er auch „problemlos“ das erste Schuljahr. Bald wird ihm allerdings in der Pubertät bewusst, dass „Mein Gewehr hat eine Ladehemmung“ bei den Mädchen für ungewollte Lacher sorgt – der Startschuss dafür, sich, bewaffnet mit Asterix-Heften, ans Deutschlernen zu machen.
Leguane, Kakadus und Trichternetzspinnen
Nach kurzer Station auf der Handelsakademie, einer, so findet Walerian, seelenlosen Profitmaximierungsanstalt, kehrt er der Schulkarriere aber bald den Rücken zu. Seine Mutter setzt ihn daraufhin vor die Tür, die anschließende Suche nach „gehaltvoller Nahrung“ führt ihn zur ersten eigenen Wohnung und zu diversen Gelegenheitsjob.

Hanser Literaturverlage
Buchhinweise
Radek Knapp: Der Mann, der Luft zum Frühstück aß. Deuticke Verlag, 128 Seiten, 16 Euro.
Am 1. März 2017 erscheint außerdem eine überarbeitete und erweiterte Neuausgabe von Knapps „Gebrauchsanweisung für Polen“ im Piper Verlag, 192 Seiten, 15 Euro.
Mit dem Glück des Unbeschwerten gesegnet, findet sich Walerian schließlich als Heizungsableser der Stadt Wien am Ziel seiner Träume wieder. Es ist ein sozialer „Archäologenjob“, der ihm essenzielle Einblicke in die menschlichen wie auch die tierischen Biotope des Gemeindebaus beschert: „Allein in Oberlaa lebten so viele Leguane, Kakadus und Trichternetzspinnen, dass die Leute von Greenpeace aufhören konnten, sich Sorgen zu machen. Sollte mal Siemens oder ein anderer Konzern den Bestand des Amazonasgebiets ausrotten, bräuchte man nur zwei Gemeindebaustiegen aus Oberlaa dorthin umzusiedeln, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.“
Wider die Klischees
Als Heizungsableser werden Walerian zugleich unverhoffte Zuneigungsbekundungen zuteil – obwohl sich das Blatt in der Zwischenzeit gewendet hat: Polen gilt nicht mehr als „geheimnisvolles Slawenland“ und Walerian nicht mehr als „exotisches, bedauernswertes Wesen“ aus der Welt hinter dem Eisernen Vorhang, sondern als potenzieller Autodieb. Solche und andere Klischees entlarvt Knapp stets treffsicher mit Ironie – sie sei „die beste, die eleganteste Form der Kritik“.
Mit „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“ präsentiert sich Knapp einmal mehr als Fachmann für das, was im weitesten Sinn als „Heimatangelegenheiten“ bezeichnet werden kann – für Dagebliebene und für Zugezogene. Eine erfrischende, augenzwinkernde Geschichte der Selbstermächtigung: Egal, ob man Ähnliches von Knapp schon kennt, man liest diese Geschichte einfach sehr gerne.
Paula Pfoser, für ORF.at
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