Einzigartige Titel haben Vorrang
Seit 2003 digitalisiert die Österreichische Nationalbibliothek ihre Zeitungs- und Zeitschriftenbestände und stellt sie online. ANNO-Projektleiterin Christa Müller erklärt im Interview mit ORF.at, welche Zeitungen zuerst ins Netz kommen und warum die neue Volltextsuche Forschern ganz neue Möglichkeiten bietet.
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ORF.at: Wann hat die Österreichische Nationalbibliothek damit begonnen, Zeitungen und Zeitschriften zu scannen und online zu stellen?
Christa Müller: Ende 2002 wurde an der Österreichischen Nationalbibliothek das Mikroverfilmen von Zeitungen neu ausgeschrieben. Dabei haben wir ein Hybridverfahren gewählt, bei dem nicht nur ein Mikrofilm erstellt wird, sondern im gleichen Schritt auch gleich ein Digitalisat. Das war damals ein wirklich innovativer Ansatz. - Um die Scans für die Leser zugänglich zu machen, haben wir Anfang 2003 die Applikation ANNO entwickelt. Im August 2003 wurde sie einem Fachpublikum und kurz danach der Öffentlichkeit vorgestellt.
ORF.at: In welcher Reihenfolge wurde mit dem Scannen begonnen? Sind Sie chronologisch vorgegangen?

Christa Müller
Christa Müller, studierte Historikerin und ausgebildete Bibliothekarin, arbeitet seit 20 Jahren an der ÖNB. Seit 2002 ist sie im Bereich Digitalisierung tätig, seit 2008 leitet sie die Abteilung Digitale Services. Das Projekt ANNO betreut sie vom ersten Tag an.
Als Erstes wurden die Titel für ANNO gescannt, für die es schon in Papierform oder als Mikrofilm eine hohe Nachfrage gab. Vorrang hatten auch Zeitungen und Zeitschriften, deren Papier, Bindung oder Einband in schlechtem Zustand war oder von denen es noch keinen Mikrofilm gab. Und natürlich solche Titel, die selten oder überhaupt einzigartig sind. Außerdem haben wir uns bemüht, in thematischen Blöcken zu scannen: Medizinische Zeitschriften, Architekturzeitschriften, Kunst- und Kinozeitschriften.
ORF.at: Wie darf man sich den Scan-Vorgang vorstellen? Konnten Sie den automatisieren, also zum Beispiel auf die Mikrofilmversion zurückgreifen, oder war ein ‚Heer von Praktikanten’ mit Blättern und Ablichten beschäftigt?
Es wird immer das Papieroriginal und nicht ein Derivat – also zum Beispiel der Mikrofilm – gescannt. Das bedeutet natürlich einen größeren Aufwand, aber die Scanqualität und damit die textliche Durchsuchbarkeit ist bei Scans vom Original so viel besser, dass sich der Mehraufwand lohnt. Das Scannen haben wir von Anfang an an einen Dienstleister ausgelagert. Eine Million und mehr Seiten jährlich in der Bibliothek zu scannen, das wäre für uns personell und finanziell eine zu große Belastung.
Beim Dienstleister sind die gleichen Scanner in Verwendung, die wir auch nutzen: Sogenannte Auflichtscanner, bei denen der Zeitungsband auf einer Buchwippe liegt und von Mitarbeitern Seite für Seite umgeblättert wird. Auf diese Weise lässt die Österreichische Nationalbibliothek jährlich circa eine Million Seiten scannen.
ORF.at: Haben Sie einen Überblick, wie viele Seiten bisher auf diese Weise online gegangen sind?
Ja, im Moment um die 17,2 Millionen Seiten.
ORF.at: Seit wann gibt es bei ANNO die Volltextsuche?
Die ersten Zeitungen wurden im Jahr 2015 volltextlich durchsuchbar gemacht.
ORF.at: Die Schrift einer Zeitung aus dem 18. oder 19. Jahrhundert unterscheidet sich grundlegend von unserer. Wie kann die Volltextsuche diese Schrift erkennen und wie entziffert sie Zierschrifttypen, also zum Beispiel Jugendstilschriftzüge?
Wenn wir die Zeitungsseiten mit der Texterkennungssoftware bearbeiten, müssen wir voreinstellen, ob es sich um Antiqua – also unsere heutige Schrifttype – oder um Frakturschrift handelt. Es gibt eine eigene OCR-Software (Optical Character Recognition, also Texterkennung, Anm.), die auch Frakturschrift erkennt. Bei den von Ihnen angesprochenen Zierschriften und Jugendstilschriften ist die Genauigkeit der Zeichenerkennung allerdings wirklich nicht so gut.
ORF.at: Welche Suchvorgänge hat das Werkzeug der Volltextsuche möglich gemacht, die bisher schwierig oder unmöglich waren?
Für die meisten Leser ist der Haupteinstiegspunkt immer noch das Datum: Man sucht Berichte zu einem bestimmten Ereignis, dessen Termin man kennt. Sucht man aber Informationen zu einer Person oder über einen Ort, dann ist das erst jetzt, mit der Volltextsuche möglich geworden. Und auch die kombinierte Suche eines Ortes mit einem Familien- oder Firmennamen ist erst jetzt möglich.
ORF.at: Wie kann die Volltextsuche in österreichischen Zeitschriften und Zeitungen unseren Blick auf die Geschichte oder auch auf die Alltagskultur verändern?
Die vielen digitalen Quellen online ermöglichen heute Fragestellungen und Projekte, die man mit Reisen in verschiedene Bibliotheken und Archive wahrscheinlich nie bewältigt hätte. Bei uns melden sich immer wieder Autoren, die erzählen, wie und wofür sie ANNO nutzen. Es wurde zum Beispiel gerade ein umfassendes Werk über den Aufstieg des jüdischen Bürgertums in der Habsburgermonarchie und dessen Anteil am wirtschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Leben zwischen 1800 und 1918 verfasst. Dabei war ANNO eine große Hilfe.
ORF.at: Gibt es aktuell Forschungsprojekte, die gezielt mit diesem neuen Tool arbeiten?
Wir wissen natürlich nicht von allen Projekten, die ANNO als Quelle nutzen. Wir kennen allerdings größere Forschungsvorhaben, die sich mit der Erstellung von Biografien beschäftigen. Außerdem haben schon erste Projekte aus dem Bereich Digital Humanities angefragt, die in den nächsten Jahren vor allem auch den Volltext nutzen wollen.
ORF.at: Für Historiker, aber sicher auch für Laien interessant - wie ist eigentlich die rechtliche Lage? Darf ich Zeitungsausschnitte, Artikel und Bilder, die ich auf ANNO finde, weiterverwenden und zum Beispiel über Social Media teilen?
Aus unserer Sicht können Sie Zeitungsartikel aus ANNO kostenfrei mit dem entsprechenden Nachweis, „ANNO – Österreichische Nationalbibliothek“, verwenden, aber es kann natürlich sein, dass etwa auf einem in einer Zeitung abgedruckten Gedicht noch immer Rechte liegen. Die genauen Regularien zu den Verwendungsrechten finden Sie auf unserer Homepage.
ORF.at: Haben Sie im Zuge von ANNO selbst auch Zeitungen kennengelernt, von denen Sie nichts wussten oder deren Existenz Sie zum Lachen bringt? Ich selbst war ja belustigt von der „Böse Buben Presse“ und „Böse Buben Zeitung“, Zeitungsparodien, die in den Zwanzigerjahren in Wien erschienen sind ...
Auf die wöchentlich erscheinende Zeitschrift „Der Eishockeysport“ sind wir erst durch einen Leser näher aufmerksam geworden, der zu diesem Thema ein Buch schreibt und immer wieder einmal nachfragt, wenn er das Ergebnis eines Spiels nicht gut lesen kann. Bei der Zeitschrift „Die Bühne“ ist es eine Freude, die Titelblätter aus den frühen Dreißigerjahren anzusehen. Und es ist immer spannend, einen Blick in Modezeitschriften zu werfen. Außerdem ist in fast allen Zeitungen der Teil mit Anzeigen und Inseraten einen zweiten Blick wert.
Das Gespräch führte Maya McKechneay, für ORF.at