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137 Euro und 50 Cent pro Schicksal

Der Gedanke, dass ein Angehöriger oder man selbst irgendwann kein selbstbestimmtes Leben mehr führen kann, ist unerfreulich. Das mag ein Grund für das recht geringe öffentliche Interesse an der kommenden Neuregelung des Sachwalterrechts als „Erwachsenenschutz“ sein. Dabei ist eine engagierte Reform möglich. Für die müssten sich Staat und Bürger allerdings ein wenig ins Zeug legen.

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Spätestens seit der k. u. k. „Entmündigungsordnung“ von 1916 - sie war immerhin bis 1984 in Kraft - wollten Gesetze zu dem heiklen Thema nur das Beste. Es ziehen dabei aber auch alle an einem Strang: Einschränkungen für Betroffene sollen so klein wie möglich und so groß wie nötig sein. Davon profitieren sie selbst, ihr Umfeld und nicht zuletzt der Staat. Trotzdem sind heute wohl an die 25.000 Menschen in Österreich trotz möglicher Alternativen besachwaltet.

Im Detail können nicht nur Teufel stecken

Schon die Entmündigungsordnung unterstrich vor 101 Jahren die Möglichkeit einer Teilentmündigung, das Sachwalterrecht seit 33 Jahren noch differenzierter ebenso. Die nun geplante Reform nimmt einen dritten Anlauf mit derselben Stoßrichtung - und unterscheidet sich noch dazu auf den ersten Blick kaum von der jetzigen Regelung. Aber manchmal steckt nicht nur der Teufel im Detail, sondern auch die Chance auf Neuerungen zum Positiven.

Die Reform will den Erwachsenenschutz auf vier Säulen stellen. Drei davon gibt es jetzt schon: Die Vorsorgevollmacht, mit der man für den Fall des Falles die gesetzliche Vertretung für die eigene Zukunft vorab regeln kann; die „automatische“ Vertretung durch Personen aus dem persönlichen Umfeld; und schließlich die Vertretung durch eine vom Gericht bestimmte Person. Zur vierten neuen Säule soll werden, dass bereits beeinträchtigte Personen ebenfalls - unter behördlicher Kontrolle - ihre Vertreter selbst aussuchen können.

Im Testlauf jede zweite Sachwalterschaft verhindert

Überhaupt aber ist Kontrolle und Begleitung im Auftrag des Staates das eigentlich bestimmende Element der geplanten Reform, beginnend beim Clearing. Vereinfacht gesagt besteht es darin, dass sich alle Beteiligten zusammensetzen und überlegen, ob und wie man um eine komplette Besachwalterung herumkommt. Die neue Methode übertraf in einem Testlauf an 18 Gerichtsstandorten die Erwartungen bei Weitem.

In dem Clearing-Testlauf konnte in mehr als der Hälfte der Fälle ein begonnenes Sachwalterschaftsverfahren wieder eingestellt werden. Der Verein VertretungsNetz (früher Verein für Sachwalterschaft) leitete den Prozess und sieht in den Resultaten die Hoffnung, dass nun zwischen Staat und Angehörigen eine partnerschaftliche Betreuung von Schutzbedürftigen „in der Rechtskultur ankommen“ könnte, so Vereinssprecher Albert Maresch gegenüber ORF.at.

Staat um Signal an Angehörige bemüht

Maresch räumt ein, dass man nun „genau dieselbe Diktion“ höre wie bei der letzten Reform und man deshalb „skeptisch bleiben kann“. Neu sei aber, dass sich der Staat um „Niederschwelligkeit“ bemühe, weil das bisherige behördliche Vorgehen Angehörige oft abgeschreckt habe. Das Clearing schaffe trotz des Drucks, unter dem Schutzbedürftige und ihre Umgebung stünden, eine „relativ relaxte Situation“ mit „Beratung und Unterstützung“.

Im Justizministerium hat Familienrechtsexperte Peter Barth das Konzept in Form gegossen. Er sieht in der Reform nicht zuletzt ein Bemühen des Staates um das Signal, dass man den Angehörigen vertraue. Vorerst ist deren Macht bei der Vertretung von Schutzbedürftigen - etwa bei Bankgeschäften - stark beschnitten. „Immer dann, wenn’s wichtig wird“, müssten Angehörige sagen: „Wir dürfen nicht mehr“, umreißt er den Handlungsbedarf.

Traurige Zahlen, vor allem in der Stadt

Dass Angehörige oder andere Nahestehende, die die Vertretung von Schutzbedürftigen auf sich nehmen, sich oft in der Position eines Quasi-Bittstellers wiederfinden, trägt sicher zur bisherigen Malaise bei: Nur 55 Prozent der Schutzbedürftigen werden von vertrauten Personen vertreten, das Stadt-Land-Gefälle ist dabei beträchtlich: In Wien etwa haben nur vier von zehn Menschen eine Vertretung, zu der sie auch eine persönliche Bindung haben.

Das enge rechtliche Korsett legt der Staat den Angehörigen nicht aus Jux, Tollerei oder Kaltschnäuzigkeit an: Er steht vor allem den Schutzbedürftigen gegenüber in der Pflicht und erlaubt deshalb quasi nur jene Vertretungshandlungen, die der Schutzbedürftige mit hundertprozentiger Garantie auch selbst so gewollt oder bei denen er keine andere Wahl gehabt hätte. Anders werden soll das nun mit durchgängiger Kontrolle. Klingt aufwendig, ist es auch.

Chance oder „Rohrkrepierer“, je nachdem

Jeder einzelne Fall eines Schutzbedürftigen soll künftig alle drei Jahre komplett neu aufgerollt und neu entschieden werden - noch dazu nicht pauschal, sondern differenziert nach den einzelnen anstehenden Aufgaben. Dazu kämen jährliche Berichtspflichten und eben in jedem einzelnen Fall vorher ein Clearing-Verfahren. Damit Personen aus dem engsten Umfeld nicht noch mehr von der Vertretung ihrer Angehörigen abgeschreckt werden als jetzt schon, sollen sie umfassende Beratung und Hilfe bekommen. Das kostet.

Ohne ausreichende budgetäre Bedeckung könne man sich das Gesetz als programmierten „Rohrkrepierer“ gleich sparen, heißt es von Kennern der Materie. Konkrete Schätzungen gibt es. Jährlich elf Millionen Euro müsste der Staat investieren, um derzeit 71.256 Menschen die bestmögliche Lebenssituation zu schaffen, wenn sie nicht mehr für sich selbst sorgen können - macht bei einem geschätzten Anstieg auf mindestens 80.000 Fälle aufgrund der alternden Gesellschaft 137,50 Euro pro Schutzbedürftigen.

„Da beginnen Kinder oft zum ersten Mal zu reden“

„Man muss sagen, dass man sich das etwas kosten lässt“, spricht auch VertretungsNetz Klartext. Notariatskammer-Vizepräsident Michael Lunzer unterstreicht gegenüber ORF.at seinerseits aber, dass „ja die jetzigen Maßnahmen auch etwas kosten“ und glaubt an eine auch „volkswirtschaftlich sinnvolle Maßnahme“. Die Notare begrüßen den Reformplan ausdrücklich, wie Lunzer unterstreicht. Entgegen verbreiteten Vorurteilen sei eine ordentlich bearbeitete Sachwalterschaft alles andere als ein gutes Geschäft.

Auch Lunzer sieht den Trend hin zu mehr Verantwortung im Familienverband nur positiv und nennt als Beispiel die schon jetzt 83.216 für die Zukunft deponierten Vorsorgevollmachten. „Da beginnen Kinder oft zum ersten Mal mit den Eltern und miteinander zu reden“, mit dem Effekt: „Wenn ich mir was vorher gut überlege, dann wird’s auch funktionieren.“ Bleibt zu hoffen, dass das für das geplante Gesetz gilt. Zumindest haben alle Beteiligten so offen miteinander geredet und an einem Strang gezogen wie selten zuvor.

Lukas Zimmer, ORF.at

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