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Neuer Anlauf für 101 Jahre alte Probleme

Der Reformstau beim Thema Sachwalterschaft hat in Österreich Tradition: „Eine überaus wünschenswerte Reform“ eines der „am stiefmütterlichst bedachten Abschnitte der Gesetzgebung“ sah das „Fremden-Blatt“ etwa schon im Juli 1916, als mit kaiserlichem Dekret das bis dahin geltende „Irrenrecht“ durch die damals neue „Entmündigungsordnung“ abgelöst wurde.

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Viel hat sich an den Zielsetzungen in den letzten 101 Jahren nicht geändert: Auch damals wurde am neuen Gesetz schon gelobt, dass die gänzliche Entmündigung nicht mehr zwingend sei, sondern nunmehr auch „beschränkte Entmündigung“ möglich sei. Geradezu revolutionär für damalige Verhältnisse war, dass vormals „Irre“ nun etwa Ehen eingehen, Erbschaften hinterlassen und darüber hinaus die „Früchte ihres Fleißes“ ernten konnten.

„Kokainismus“ und andere Krankheiten

Ebenso bemerkenswert für damalige Verhältnisse war die Einsicht, dass Suchtkranke eben das sind: krank. Der Kommentar sprach von „einer eigenartigen Erscheinungsform der psychopathischen Minderwertigkeit“, den „sogenannten ‚Süchtigen‘, das sind eben jene Personen, welche mit irgend welchen Nervengiften gewohnheitsmäßigen Missbrauch treiben“. „Morphinismus und Kokainismus“ hätten „wohl irgend einen äußeren Anreiz zur Ursache“, so die damals bemerkenswert fortschrittliche Ansicht.

Nicht umsonst blieb die kaiserliche Entmündigungsordnung bis 1984 in Kraft - unterbrochen durch die Jahre 1938 bis 1945, als aus zu unterstützenden Menschen „Volksschädlinge“ oder anderes „unwertes Leben“ wurde. Dass die kaiserliche Entmündigungsordnung schließlich durch die weit differenziertere Sachwalterschaft ersetzt wurde, war eines der letzten großen Gesetzesprojekte von Reform-Justizminister Christian Broda (SPÖ).

Langsam, aber zumindest in die richtige Richtung

Die „Entmündigung“ 1916, die „Besachwalterung“ 1984 und nun der „Erwachsenenschutz“ wollten und wollen dasselbe: so wenig Einschränkung für Schutzbedürftige wie möglich und so viel Schutz wie nötig, sowohl für die Betroffenen als auch für deren Umgebung. Nicht umsonst werden seit Generationen erstsemestrige Jusstudenten mit der Frage gequält, wer eine kunstvolle Torte bezahlen muss, wenn der Konditor den Auftrag dafür von einem mittellosen Besachwalterten bekommen hat.

Bei aller Langsamkeit bewegt sich die österreichische Rechtslandschaft aber stetig in die richtige Richtung: 1984 erkannte man, dass Drogensüchtige, Alkoholkranke, aber etwa auch „Verschwender“ keine Fälle für Entmündigung, sondern für Behandlung sind. Schon davor war mit der Gründung des Vereins für Sachwalterschaft (heute: VertretungsNetz) ein entscheidender Schritt getan worden, um die nötige Balance bei der Einschränkung von Schutzbedürftigen zu ihrem eigenen Besten zu finden.

Wenn Abgeordnete über sich hinauswachsen

Damals wie heute war die Regelung ein Prüfstein für das soziale Gewissen der Gesellschaft. Angesichts des nun aufkeimenden Streits über die budgetäre Bedeckung des geplanten „Erwachsenenschutzrechts“ könnte man sich am Jahr 1916 orientieren: Damals war das Gesetz am Kippen, das Parlament besann sich aber seiner Rolle als Gesetzgeber und erließ eine Regelung, die weit über das Geplante hinausging - was schon damals zum Erstaunen führte, zu welch „hervorragendstem Anteil an Gesetzeswerken“ Abgeordnete bisweilen imstande seien.

Lukas Zimmer, ORF.at

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