Scherzmittel in hohen Dosen
Ein Whitney-Houston-Song, eine Nacktparty, ein Fellmonster: In Maren Ades Film „Toni Erdmann“ sind das die Stationen, über die ein Vater und seine Tochter sich einander wieder annähern. Großartig spielen Sandra Hüller und Peter Simonischek in dieser fulminanten Tragikomödie im Setting deutscher Unternehmenskultur. Regisseurin und Drehbuchautorin Ade sprach mit ORF.at über die Entstehung des Erdmanns.
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Wo genau liegt Remchingen? „In Baden-Württemberg“, sagt Ade, die 1976 in Karlsruhe geboren wurde und in der Gegend aufwuchs. Für Ines Conradi (Hüller), die Hauptfigur in Ades „Toni Erdmann“, ist die Kleinstadt mehr als nur ein geografischer Ort: der enge Vorraum ihres Elternhauses, verstellt mit Krimskrams. Der liebevoll gehegte Garten, der verpflichtend einladende Esstisch. Irgendwann in Ines’ Leben wurde all das zu einem Gefühl, das sie abschütteln wollte.
Sie zog aus, so schnell es ging: Studium, schnelle Karriere in einer weltweit agierenden Firma. Jetzt ist Ines eine erfolgreiche Unternehmensberaterin, momentan stationiert in Bukarest. Dort soll sie dem Boss einer Ölfirma helfen, den Großteil seiner Belegschaft zu kündigen.
Chaot und Desaster-Clown
Eine Familienfeier zu ihrem Geburtstag kommt ihr da ungelegen. Der Mama zuliebe legt sie trotzdem einen kurzen Zwischenstopp in Remchingen ein, auch ihr Vater ist da. Winfried (Simonischek) war ihr schon als Kind peinlich. Ein Chaot und ein Desaster-Clown, um keinen Schabernack verlegen. Ihrer Meinung nach hat er sich längst aufgegeben. Ines versteckt sich im Garten.

Komplizen Film
Ines (Sandra Hüller)
Doch Winfried findet sie. Ein stattlicher, doch gebeugter Mann mit leicht verfilzten Haaren und schelmischem Blick aus weichen, braunen Augen. In seiner Jackentasche hat er stets ein schiefes Scherzgebiss. Außer er trägt es gerade.
Er pirscht sich an, um mit Ines zu reden. Also muss sie das Scheintelefonat unterbrechen, das sie führen will, so lang es geht. Kein Problem, er habe sich schon eine Ersatztochter angeschafft, sagt Winfried - und wahrlich: Ein echtes Glücksgefühl darüber, dass dieser soeben noch wie ein Zombie geschminkte Typ (Winfried kam gerade von einem Kinderfest) tatsächlich ein Teil von ihr ist, scheint sich bei Ines nicht breitzumachen.
In wenigen Einstellungen zur Zeitdiagnose
Nur wenige Einstellungen braucht Regisseurin Ade, um Ines und Winfried in ihrer Vielschichtigkeit zu zeigen. Wie schon in „Alle anderen“, für den sie 2009 den Jurypreis der Berlinale erhielt, wählt Ade in „Toni Erdmann“ eine Paarkonstellation, um weit über den zwischenmenschlichen Konflikt hinaus eine Zeitdiagnose zu entwickeln.
Das Nachdenken über Familien- und Beziehungsstrukturen, über Rituale und gegensätzliche Vorstellungen von sich selbst und vom Leben sei auch dieses Mal am Anfang einer dramaturgischen Zuspitzung gestanden, sagt Ade. Es habe sie interessiert, wie wenig sie selbst sich beim Arbeiten von ihrer Familie lösen könne: „Wenn man jünger ist, glaubt man, die Herkunft habe keinerlei Einfluss auf die eigene Existenz.“
Erziehung kehrt sich gegen Erzieher
Winfried, ein Alt-1968er, hat sich womöglich einmal davor gefürchtet, seine Tochter könnte eines Tages Drogen nehmen, eine Aussteigerin werden, nichts „Gewinnbringendes“ auf die Reihe bekommen - also, so werden wie er. Doch die aalglatte Unternehmenswelt, in der ausgerechnet seine Ines nun skrupellose Entscheidungen trifft, die konnte er sich nicht ausmalen. Fast scheint es, als hätte sich Winfrieds sozialromantische Erziehung gegen ihn selbst gekehrt. „Als hätte die Weltoffenheit, die Väter wie er vermittelten, sogar die Globalisierung erleichtert“, so Ade.
„Toni Erdmann“ bleibt nicht im Eltern-Kinder-Nichtverstehen-Thema stecken. Winfried will die fremd gewordene Tochter wieder (er)kennen. Also steht er kurz nach der Familienfeier vor Ines’ Tür in Bukarest. Ines ist distanziert, aber freundlich, so wie mit allen Menschen in ihrem Leben. Sie nimmt ihn mit auf einen Empfang, und sofort wird deutlich, wovor sich Winfried gruseln darf.
Der seelenlose Jargon, mit dem Ines ganze Gespräche aus Wörtern wie „outsourcen“, „Minimallösung“ und „Asset“ baut, und wie sie sich damit auch noch karrieretechnische Abhängigkeiten schönredet, lässt ihn verzagen. Wie zu ihr durchdringen? Wie sie aus diesen schlimmen Kreisen befreien?
Kindlichkeit als Wagnis
Winfried wohnt eine naive Kindlichkeit inne, der man sich als Erwachsener oft nicht mehr hinzugeben wagt. Ihm dämmert keine Sekunde, dass Ines eventuell gar nicht befreit werden will: Dass sie dieses Leben gewählt hat, weil sie sorgfältig abgewogen hat, dass sie es weiterführen will, weil sie Erfolg kennt.
Es ist eine große Leistung Ades (die selbst das präzis austarierte Drehbuch schrieb), beide Protagonisten in ihrer Ambivalenz voll zu erfassen und dabei nie zu verraten. Sie hegt eine große Sympathie auch für diese Ines, deren Entscheidungen sie nicht gutheißen mag, die sie aber respektieren kann.

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Winfried (Peter Simonischek) in seiner Verkleidung als Toni Erdmann
Hüller kann all diese Facetten spielen. Ihr Körper und Gesicht sind durchlässig für die Fassade, an der Ines emporkommen will – und für die kleinsten Regungen, Reaktionen und die Zweifel, die Ines meint sich nicht erlauben zu dürfen.
Die Unerträglichkeit des Alltags
Nach dem verkorksten Wochenende wartet Ines mit Winfried vor dem Aufzug. Bis gestern war man einander ein wenig näher gekommen. Jetzt aber ist das Terrain wieder fremd. Schon dreieinhalbmal Mal „Tschüss“ gesagt. Der Aufzug ist immer noch nicht da.
Es ist derart hell in diesem morgendlichen Stiegenhaus, dass man fast die Staubkörnchen irrlichtern sieht. Niemand kann sich hier verstecken, die Sekunden der Sprachlosigkeit sind endlos. Das Fremdschämen, das Ades unbeirrbarer Blick für die Nüchternheit des Alltags erschafft, kehrt sich stets in zugetanes Mitfühlen.
Das Spiel beginnt von Neuem
Der Aufzug schluckt Winfried dann doch - aber nach Deutschland kehrt er nicht zurück. Nun beginnt der Film, nach einem Drittel, neu. Mit noch mehr irrwitzigen Wendungen, die alle funktionieren. Winfried bleibt in Bukarest als Toni Erdmann: Ein zwielichtiger „Coach“ mit dunkler Zauselperücke und seinen falschen faulen Zähnen.
So lauert er Ines fortan auf. An ihrem Arbeitsplatz, in einer Bar, wo sie sich mit Freundinnen trifft. Er sprengt Empfänge, Geschäftsessen, die Koksparty in der Clubdisco, den Businesstermin in den rumänischen Ölfeldern. Natürlich überreißt Ines sofort, dass dieser grottenschlecht verkleidete Irre ihr Vater ist, doch sie macht das Spiel mit. Erstens weil sie ohnehin keine Wahl hat, und zweitens weil sie darin auch die Chance sieht, sich selbst zu überprüfen. „Faktisch evaluieren“, würde Ines sagen.
Furzkissen als Waffe der Wahl
Über den Fremden Toni Erdmann also, tatsächlich eine nervende und peinliche Erscheinung, bewegen sich die beiden wieder aufeinander zu. Das läuft nicht glimpflich ab: Messerscharfe Wortgefechte, Handschellen, Furzkissen und Designer-Käsereiben bilden das unlautere Waffenarsenal. Bald ist jedes Scherzmittel recht.
Im Laufe dieses öffentlich ausgetragenen Kampfes fallen alle Rollen allmählich aus- und ineinander: Ines wird sich wie ein erwachendes Gespenst ihrer selbst wieder gewahr. Irgendwann schält sie sich wortwörtlich aus ihrem perfekt sitzenden Businesskostüm wie aus einer eingerosteten Ritterrüstung.
Dem Sexismus, der Scham und dem Ausgeliefertsein, die sie in ihrem Job spürt, kann sie sonst nur in kleinen sexuellen Erniedrigungen mit ihrem Umstandsliebhaber beikommen. Aber dann findet Ines einen Weg, das System umzukehren, und plötzlich sind alle nackt: Ines, ihr Chef sowieso, und auch die herzensgute Praktikantin, die wirklich alles für eine Performanceoptimierung tun würde.
Emotionale Transitzone
So erklimmt der Film immer neue Stufen des Wahnsinns, der Verzweiflung und des Aberwitzes. Zugleich ist man mit Ade diesen Menschen in all ihren Rollen so nah, als erkenne man sich selbst.
Anbiedernd leicht macht Ade das einem nicht. Penibel hat sie alles verschwinden lassen, das Heimeligkeit vermitteln könnte. Kahle Büros mit türkisfarbenen Teppichen, niedrige Hotelzimmer, leere, lila lackierte Bars, sogar am Apartment von Ines perlt man ab: Alles wirkt wie eine Transitzone, eine moralische, emotionale Übergangslösung. Will man sich sicher fühlen, verharrt man wohl am besten an einem Stehtisch.
Mit Winfrieds Verwandlung zu Toni Erdmann beugt sich auch der Film ganz leicht in eine transzendente Ebene. Noch bevor er als mythologisches Fellmonster in Erscheinung tritt, kann er Ines dazu bringen, Whitney Houstons „Greatest Love of All“ zu schmettern. Bei der Pressevorführung im diesjährigen Wettbewerb von Cannes gab es dafür zweifachen Szenenapplaus. Ines ist hier ganz bei sich: Als Kind, als Winfrieds Tochter und als unabhängige Frau.
In guter Erinnerung
Monate danach kommen Ines und Winfried wieder zusammen. Erneut stehen sie in einem Garten, doch da ist ein seltsames Gefühl: gegenseitiger Respekt. Das Wiedererkennen hat stattgefunden, eine Erdung auch - bei beiden. Vielleicht ist Bukarest gar nie passiert. Vielleicht kann man das Leben nicht einmal ein kleines bisschen kontrollieren.
Vielleicht hat das Außergewöhnliche gegen die Routine tatsächlich keine Chance, und vielleicht hilft Humor doch nicht immer. Umso besser, wenn Toni Erdmann Bedenken wie diesen sein Scherzgebiss in den Mund legen kann.
Alexandra Zawia, für ORF.at
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