Aus der Notlage zur Verordnungspraxis
Kindesweglegungen sind Einzelfälle. Freilich Fälle, die in den Medien große Resonanz erzeugen. In Österreich konnte Anfang 2016 ein weggelegtes Kind gerettet werden - eines hingegen starb in diesem Sommer in Kärnten nach der Ablegung in einer Babyklappe Tage später an einer Lungenentzündung. Dass es mit der bekannten Babyklappe noch nicht getan ist, was die Sicherung des neuen Lebens angeht, zeigt die lange Auseinandersetzung um das Recht auf anonyme Geburt, die ja auch in Österreich möglich ist.
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Seit 15 Jahren gibt es in Österreich die Möglichkeit zur anonymen Geburt. Die Straffreiheit der Kindesweglegung unter bestimmten Voraussetzungen, wie sie der Gesetzgeber im Juli 2001 per Erlass ermöglichte, hat in einem weiteren Schritt auch die Option zur anonymen Geburt in Österreich geebnet.
Damit hat sich Österreich Ländern wie Frankreich angeschlossen - und auch den Nachbarn Deutschland in diesem Feld hinter sich gelassen, der die anonyme Geburt als „vertrauliche Geburt“ ermöglicht, sich aber in der gesamten Anerkennungspraxis eines „vertraulich“ zur Welt gekommenen Menschen auf eine Reihe von Grauzonen oder Duldungen verlassen muss.
Der „Torno“ und die Folgen
Seit der Einführung der ersten Babyklappen, die im Mittelalter von kirchlichen Institutionen unter dem Begriff „Torno“ (also Lade) eingeführt wurden, war die Vermeidung der „Kindstötung“ durch Weglegung die proklamierte Losung einer auf die Nativität fixierten Religion. Das Schicksal der gebärenden Frau blieb da eher zweitrangig.

Richardfabi
Am Ospedale degli Innocenti in Florenz kann man einen „Torno“, also eine Babydrehlade, aus dem 14. Jahrhundert sehen; die älteste Babyklappe wurde in Rom Ende des 12. Jahrhunderts im Ospedale Santo Spirito installiert
Vorbild Frankreich
In Frankreich ebnete Napoleon der anonymen Geburt den Weg zur rechtlichen Durchsetzung. Ein geschlossenes Procedere zum rechtlich einheitlichen Anerkennungsverfahren vollzog Frankreich freilich auch erst in den 1990er Jahren. In keinem anderen europäischen Land ist die anonyme Geburt mit einem derart dichten Procedere ausgestattet wie in Frankreich. Wer in Frankreich anonym gebärt, muss Angaben zu seiner Person hinterlassen.
Und ist ein Kind anonym zur Welt gekommen, hat es das Recht, zu erfahren, wer die leibliche Mutter ist. Kommt dieser Wunsch zum Tragen, wird ein detailliertes Verfahren der Einwilligung aufseiten der Mutter und unter dem Schutz von begleitenden Gremien in Gang gesetzt.
Anonym Gebärende meist jünger
Französische Untersuchungen des Demografieinstituts INED belegen bei im Schnitt 700 Anonymgeburten pro Jahr: Babyklappen machen bei den anonym registrierten Kindern nicht einmal zehn Prozent der Fälle aus. Der Großteil der anonym zur Welt gekommenen Menschen ist durch die Möglichkeit der Anonymgeburt zur Welt gekommen. Die Mütter, die Kinder anonym zur Welt bringen, sind im Altersschnitt um vier Jahre jünger. Und sie sind meistens auch Erstgebärende.

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Wärme als zentrales Element in einer Babyklappe. Hier ein Babynest an einem deutschen Krankenhaus.
In Österreich gibt es 30 bis 40 anonyme Entbindungen pro Jahr. Kinder in Babyklappen werden im Schnitt nur in zwei bis drei Fällen pro Jahr in einem Babynestchen abgelegt.
Komplizierte Rechtsfragen
Ein grundsätzliches Recht auf anonyme Geburt gibt es in Österreich nicht. Allerdings ist durch den Erlass des Justizministeriums aus 2001 die Kindesweglegung nur noch dann strafbar, wenn damit eine Gefährdung des Kindes verbunden ist.
„Eine Aussetzung beispielsweise in einem Krankenhaus, unter anderem im Rahmen einer anonymen Geburt, hat für die Mutter seither keinerlei strafrechtliche Konsequenzen mehr“, hält etwa die Plattform „Anonyme Geburt“ fest. Juristisch wird das Kind im Rahmen einer anonymen Geburt wie ein Findelkind behandelt. Auch das Krankenanstalts- und Hebammengesetz wurden für die Ermöglichung dieser Geburtsform dahingehend erweitert.
Geburt in Korneuburg als Modellfall
Präzedenzfall für die Möglichkeit auf anonyme Geburt wurde der Fall einer schwangeren Frau in Wien im Mai 2001, die nach lange verdrängter Schwangerschaft ihr Kind in Wien anonym in einem Krankenhaus mit eingerichteter Babyklappe zur Welt bringen wollte. Weil das in dem Krankenhaus nicht gestattet war, wurde sie damals nach Korneuburg gebracht, wo das dortige Krankenhaus die Option zur anonymen Geburt signalisiert hatte.
Die Auswirkungen der Einführung der anonymen Geburt werden von politischer Seite wie von der Forschung kontrovers diskutiert. Selbst die bisher größte Studie zu dem Thema in Frankreich zeigt, dass das reine Gegenrechnen statistischer Zahlen immer eine Stelle ausklammert: das Schicksal der gebärenden Frauen.
Zwei Rechte in Konflikt
Juristisch betrachtet stehen zwei Kinderrechte im Konflikt: das Recht auf Leben und das auf Identität. Der Deutsche Ethikrat als auch der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen (UNCRC) haben festgehalten, dass die Wirksamkeit der anonymen Kinderabgabe das in der Kinderrechtskonvention verankerte Recht des Kindes auf Identität verletze. Darauf weist auch ein Artikel der früheren Kinderrechtsexpertin im Österreichischen Familienforschungsinstitut, Maria Orthofer, aus dem Jahr 2014 hin.
Die beim Bundeskanzleramt angesiedelte Bioethikkommission teilt die Skepsis der deutschen Kollegen nicht. In Reaktion auf die deutsche Bioethikstellungnahme hielt man 2010 fest, „dass die in Österreich seit 2001 angebotene Möglichkeit der anonymen Geburt beziehungsweise das ‚Babynest‘ eine begrüßenswerte Einrichtungen“ sei.
Senkt die Anonymgeburt die Kindestötung?
Der Rückgang von Kindestötungsfällen in Österreich seit den 1970er Jahren ist für Orthofer, wie sie mit einem Verweis auf die Statistik (Orthofer/Orthofer 2013) bis 2011 belegt, nicht ursächlich mit der Einführung der Möglichkeit zur anonymen Geburt zu belegen. Eine Studie der MedUni Wien aus 2012 belegt wiederum eine Halbierung der Kindstötungen in den ersten 24 Stunden nach der Geburt seit der Einführung des Mittels der Anonymgeburt - mehr dazu auch in wien.ORF.at.
Kinder in den Babynestchen meist gut erstversorgt
Schwangere Mütter, die ihre Kinder in Babyklappen abgegeben, beschreibt auch die Kinderexpertin Orthofer in Zusammenfassung aller Studien als „verantwortungsvolle Personen“.
Entsprechendes machte auch ein Radiofeature von Ö1 vor Kurzem deutlich, in der Mitarbeiterinnen an der Babyklappe im Wilheminenspital bestätigten, dass die meisten Babys, die in der Babyklappe abgegeben würden, sehr gut versorgt seien. Auch würden die Mütter sehr oft die Möglichkeit wahrnehmen, via die über die Kinderklappe ausgegebenen Codes anonym über das Schicksal des Kindes Tage oder Wochen später nachfragen zu können.
„Im Normalfall sind das ja Frauen, die aus einem Grund das Kind in die Babyklappe legen“, erinnerte die Ärztin Petra Krenn-Maritz gegenüber Ö1: „Die Frauen wissen nicht, wie sie vorgehen sollen, die sind in total verzweifelten Situationen, die Schwangerschaft ist in den meisten Fällen nicht geplant und nicht gewollt. Die sehen oft keine andere Möglichkeit, die Schwangerschaft wird dann oft eine Zeit lang verleugnet, und die Geburt ist auch mit einem Schock verbunden und einem wirklich traumatischen Erlebnis.“
„Frauen sollen selber bestimmen können“
In der Diskussion pro oder kontra Anonymgeburt hält die Plattform Anonyme Geburt auf ihrer Website fest: Gerade vor dem Hintergrund der psychischen Notlage, in der sich manche Frauen bei ungewollter Schwangerschaft befänden, solle jede Frau selbst bestimmen können, ihr Kind bei der Geburt zu behalten oder zur Adoption freizugeben. Und „falls sie die Adoption wählt, sollte sie eine freie Wahl haben, ihre Identität bekanntzugeben oder anonym zu bleiben“.
Alle bisherigen Studien konnten jedenfalls denen noch keine Stimme geben, die tatsächlich in der Notlage waren, anonym zu gebären - oder ihr Kind in einem Nestchen abzugeben.
Gerald Heidegger, ORF.at
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