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Modernisierung durch Tourismus

In Swanetien finden Reisende noch, was heute selten zu finden ist: Ursprünglichkeit. Gastfreundschaft. Und atemberaubende Natur. Die georgische Region im hohen Kaukasus an der Grenze zu Russland mauserte sich in den vergangenen Jahren zum Geheimtipp für Abenteuertouristen. Die vom Fremdenverkehr befeuerte Modernisierung katapultiert das ehemals von Familienclans beherrschte Gebiet ins 21. Jahrhundert.

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Schmal und steinig windet sich die Straße durch die Berge. Immer wieder wird die erdige Piste von Flussläufen unterbrochen, tiefe Schlaglöcher und Schlammfelder verhindern ein zügiges Vorankommen. Marschrutki, die in Georgien üblichen Geländetaxis, pflügen über die Holperpiste, vollgepackt mit Wanderern. Sie sind auf dem Weg nach Uschguli, dem höchstgelegenen Dorf in Swanetien auf 2.200 Meter Seehöhe. Es liegt direkt am Fuße des Schchara, mit knapp über 5.000 Metern der höchste Berg Georgiens.

Szenerie wie im Mittelalter

Uschguli wirkt wie aus einem vergangenen Jahrhundert in die Jetztzeit gebeamt: Auf den Schlammpfaden, die das Dorf durchziehen, streifen Schweine und Kühe umher. Reiter kommen aus dem unteren Dorfteil in den oberen geprescht. Straßenbeleuchtung gibt es keine. Nur das auffällige „WIFI here“-Schild an einigen Häuser kratzt an der Illusion der mittelalterlichen Bergidylle.

Landschaftsansicht von Swanetien in Georgien

David Tiefenthaler

Seit 1996 ist ein Teil Uschgulis UNESCO-Weltkulturerbe

Zwischen den teils verfallenen, teils restaurierten Häusern ragen hier und da mächtige Steintürme wie kleine Burgen in die Höhe. Keine Tür gewährt Einlass, kein Fenster lässt einen Blick ins Innere erhaschen. Vor Jahrzehnten als Verteidigungsbauten gegen einfallende nordkaukasische Stämme und verfeindete Familienclans errichtet, erzählen die zahlreichen Wehrtürme von einer kriegerischen Vergangenheit.

Totale Abgeschiedenheit

Bis ins 19. Jahrhundert war Swanetien, von hohen Bergen geschützt, eine autarke Region, die nie von einer fremden Macht unterworfen wurde und kaum Handelsverbindungen pflegte. Schon Strabon, ein antiker Geograf, beschrieb die Swanen als „Volk der Krieger“. In den engen Tälern und an den steilen Hängen der kaukasischen Berge haben sich Jahrtausende alte Traditionen bis heute gehalten.

Wenngleich sich Georgien rühmt, zu den ältesten christlichen Ländern der Welt zu gehören - bereits 400 nach Christus wurde das Christentum die Staatsreligion - und in Swanetien über 100 orthodoxe Kirchen errichtet wurden, gehören in den nördlichen Bergen noch immer heidnische Bräuche des ehemaligen Sonnenkultes zur Tradition. Die Schlachtung von Stieren und Schafen, die mythologisch angehauchten Kreistänze und die heidnischen Symbole an Kirchentüren scheinen hier keinen Widerspruch zum strengen orthodoxen Glauben darzustellen.

Regierung brach Macht der Clans

Wenngleich sie seit dem Mittelalter Teil des georgischen Königreichs war, herrschten in der Bergregion bis vor wenigen Jahrzehnten eigene Gesetze. Familienclans hatten das Land untereinander aufgeteilt, Streitigkeiten wurden mitunter blutig ausgetragen. Erst der umstrittene Präsident Michail Saakaschwili, der Georgien auf Modernisierungskurs brachte, brach die Macht der Clans.

Zuvor war es des Öfteren zu Entführungen gekommen, Wegelagerer lauerten Touristen auf. Saakaschwili ging hart gegen die kriminellen Clans vor. Im Jahr 2004 rückte das Militär in der swanischen Hauptstadt Mestia ein, um die in einem Wehrturm verschanzten Mitglieder des Aparasidze-Clans zu stellen.

Landschaftsansicht von Swanetien in Georgien

David Tiefenthaler

Unter Alpinisten gilt der Uschba als schwierig zu besteigender Berg. Auf Swanisch bedeutet Uschba „der Fürchterliche“. Er gilt als Ort des Bösen.

Tourismus boomt

Heute ist von den Spuren des Krieges in Mestia, das gerade 2.600 Einwohner zählt, nichts mehr zu sehen. Touristen und Bergsteiger etwa aus Israel, Russland und Frankreich wuseln über die engen Gehsteige, um Proviant für die nächste Tour zu kaufen, oder sitzen in einem der zahlreichen Cafes. Auf dem Hauptplatz wacht ein Wehrturm aus Glas über das Geschehen: die örtliche Polizeistation.

Swanetien hat sich innerhalb von zehn Jahren vom Geheimtipp für abenteuerlustige Grenzgänger zum Touristen-Hotspot gemausert. Von der Hauptstadt Tiflis bringen Kleinbusse Rucksacktouristen im Stundentakt nach Mestia. Es gibt einen internationalen Flughafen, Pensionen in Hülle und Fülle und bald auch ein Gletscherskigebiet.

Wirt statt Bauer

Für die Bevölkerung in Swanetien hat sich das Leben verändert. Bauern, die früher in den kurzen Sommern Erdäpfel und Weizen anbauten oder von der Viehwirtschaft lebten, betreiben heute Hostels, arbeiten als Bergführer oder eröffnen ein Cafe.

Zu verdanken haben sie diesen Wandel Menschen wie Tsauri Khartolani. Der ehemalige Bergsteiger hatte die Möglichkeiten der Tourismusbrache erkannt und begonnen, Informationsstellen für Einheimische einzurichten.

„Gäste werden von Gott geschickt“

Hier konnten sich interessierte Bergbewohner grundlegende Kenntnisse für die Unterbringung von Gästen aneignen. Auch wenn seitdem in fast jedem noch so abgelegenen Dorf ein Gasthaus zu finden ist, so ist doch manches gleich geblieben. Brotgerichte werden oft noch immer über dem Holzofen zubereitet, und der Käse wird, wenn möglich, zumindest vom Nachbarn geholt.

Eine wichtige Tradition kommt den Swanen im Tourismusgeschäft zugute: ihre Gastfreundschaft. „Gäste werden von Gott geschickt“, lautet ein georgisches Bonmot. Dementsprechend aufgeschlossen zeigen sich die Einwohner, geht ein hungriger Wanderer an ihrem Gartenzaun entlang.

Zu schnell in die Zukunft katapultiert?

Nach Jahren der Abgeschiedenheit und der Widerspenstigkeit gegen die Modernisierung entwickelte sich Swanetien in den letzten Jahren rasant. Manchen geht es zu schnell. Investoren aus dem Ausland finanzieren Hotels, Liftanlagen und Straßen. Wie sich der boomende Tourismus auf die ursprüngliche Bergwelt Swanetiens auswirken wird, ist noch unklar.

Doch das Ende des Dornröschenschlafes eröffnet der früher von kriminellen Clans geplagten Region neue Perspektiven. Der Fremdenverkehr ist mittlerweile Hauptlebensgrundlage vieler Swanen. Und auch die Jungen, die häufig in Tiflis ihre Zukunft sahen, können sich mittlerweile wieder vorstellen, die einsamen Dörfer und verfallenen Wehrtürme mit neuem Leben zu füllen.

Nina Temann und David Tiefenthaler, für ORF.at