Sachabstimmung oder Stimmungstest?
Ganz Österreich wird am Sonntag gespannt wie selten verfolgen, wie die Neuauflage des Bundespräsidentschaftsduells zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer verläuft. Doch jenseits der Landesgrenzen wird das - zumindest an diesem Tag - kaum interessieren. Alle Aufmerksamkeit richtet sich vielmehr auf Italien.
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Denn dort stimmen die Italiener am selben Tag über die geplante Verfassungsreform von Regierungschef Matteo Renzi und seiner Ministerin Maria Elena Boschi ab - mit dem größten Umbau seit Jahrzehnten soll das komplizierte und oft träge politische System deutlich modernisiert werden.
Die Frage ist allerdings, wie die Italienerinnen und Italiener den von Renzi zwecks Erhöhung der Legitimität selbst angepeilten Urnengang sehen: Ob als Abstimmung über die Sache - oder ob sie das Referendum zu einem Votum über die aktuelle Regierungskoalition ummünzen. Viele Umfragen deuteten jedenfalls auf ein Nein hin.

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Die Nein-Kampagne wirbt mit Renzi auf dem Plakat - allerdings, um seine Gegner zu motivieren
Junckers Lob und Selbstzweifel
Und genau diese Aussicht ist es, die viele führende Politiker in Europa unruhig macht. Denn Renzi verband sein persönliches Schicksal, so wie die für die Reform zuständige 35-jährige Ministerin Maria Elena Boschi, immer wieder mehr oder weniger verbindlich mit dem Ausgang der Abstimmung.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gab Renzi zuletzt Rückendeckung - zweifelte aber selbst gleich daran, ob das hilft: „Ich weiß nicht, ob ich Renzi helfe, wenn ich sage, ich würde gerne das Ja-Lager gewinnen sehen“, so Juncker Ende November gegenüber der italienischen Zeitung „La Stampa“. „Daher sage ich lieber, ich fände es nicht gut, wenn das Nein die Oberhand gewänne.“ Italien sei eine große Nation, und Renzi habe dazu viel beigetragen.
„Sklerotische“ Wirtschaft
Für viele Italiener könnte aber der springende Punkt die anhaltende schwierige wirtschaftliche Lage sein - und die fehlenden Aussichten, dass sich hier in naher Zukunft spürbar etwas verbessert -, darin sind sich sowohl „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“) als auch „Frankfurter Allgemein Zeitung“ („FAZ“) einig. Eine aktuelle Studie des Instituts Ipsos bestätigt das: Demnach waren nur 14 Prozent der Befragten der Ansicht, die Lage sei gut.
Zwar würde wohl eine Niederlage für Renzi unmittelbar keine großen Schockwellen auslösen. Doch die Folgen könnten vielschichtig und nachhaltig sein: Wirtschaftlich würde es für den völlig überschuldeten Staat wohl empfindlich teurer werden, die Schuldenlast zu bedienen.
Auslandsinvestitionen in der etwa von der „NZZ“ als „sklerotisch“ bezeichneten Wirtschaft könnten weiter zurückgehen. Das könnte aber im schlimmsten Fall eine neue Krise in der Euro-Zone auslösen, da Italien wohl zu groß ist, um ähnlich wie Griechenland mit Milliardenhilfen gerettet zu werden.

Reuters/Tony Gentile
Die Ja-Plakate konzentrieren sich auf das Wesentliche
Immer mehr Großbaustellen
Das könnte die Europäische Union in noch schwerere Turbulenzen bringen - dabei hielt das Jahr 2016 bereits reichlich Belastungen und Unwägbarkeiten für die EU bereit: Da war und ist zunächst der andauernde Zwist über eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, der die 28 Staaten immer stärker spaltet. Das britische Votum für einen „Brexit“ im Frühjahr war ein Schock für die EU, der politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich noch viele Jahre nachwirken wird.
Die Wahl von Donald Trump zum nächsten Präsidenten der USA wirft ein großes Fragezeichen auf die künftigen transatlantischen Beziehungen, die angesichts der Spannungen mit Russland besonders wichtig sind. Fast nebenbei ist das Handelsabkommen TTIP zumindest auf absehbare Zeit tot. Dazu kommt noch der Dauerstreit mit einer immer autoritärer regierten Türkei.
Und im nächsten Jahr stehen Präsidentschaftswahlen in Frankreich und dann Bundestagswahlen in Deutschland an - jeweils zumindest mit starken Auftritten der Rechtspopulisten, in Frankreich auch mit einer Siegeschance für Front-National-Chefin Marine Le Pen.
„Welt geht nicht unter“
Wenn es in Italien als Folge des Referendums zu vorgezogenen Neuwahlen kommt (regulärer Termin wäre spätestens Mai 2018, Anm.), würde es aus heutiger Sicht im dritten großen EU-Gründungsstaat zu einem starken Machtzuwachs der radikalpopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo kommen. Manche Umfragen sehen ihn derzeit sogar als stärkste Kraft. Und die Fünf-Sterne-Bewegung ist für ein Verlassen der Euro-Zone.
In einem Gastkommentar für die „Financial Times“ („FT“) wenige Tage vor dem Urnengang versuchte Außenminister Paolo Gentiloni - er ist als vormaliger EU-Botschafter ein Kenner Brüssels - bereits im Vorfeld zu beruhigen: „Was soll Europa am Morgen des 5. Dezember erwarten? Wenn eine Mehrheit für Nein stimmt, geht die Welt auch nicht unter. Es wird sicher beunruhigende Folgen geben, sollten jene unterliegen, die versuchen, mit Stabilität und Reformen ein Bollwerk gegen den Populismus zu errichten. Aber ich vertraue auf die Weisheit meiner Landsleute und bin zuversichtlich, dass die Ja-Stimmen siegen werden.“
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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