Kräftemessen in der Kuba-Krise
Die Kuba-Krise im Oktober 1962 hat längst ihre eigene Mythologie bekommen - als „High Noon“ zwischen dem jungen US-Präsidenten John F. Kennedy und dem bauernschlauen Sowjetchef Nikita Chruschtschow mit dem wilden jungen Revolutionär Fidel Castro als Sekundanten, nur mit Atomraketen statt Colts. Das Bild vom gewollten dramatischen Kräftemessen ist allerdings grundfalsch.
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Mehr als fünf Jahrzehnte nach der geheimen Stationierung von sowjetischen Atomraketen vor der Haustüre der USA, als die Welt so nah am atomaren Weltkrieg vorbeischrammte wie niemals vorher oder nachher, zeigen neue Erkenntnisse und der Blick aus der Distanz: Beide Supermächte blieben einander damals im Hinblick auf Pleiten, Pech und Pannen kaum etwas schuldig. Die Kuba-Krise konnte auch nur deshalb entstehen, weil ihr durch jahrelange strategische Fehleinschätzungen und Versäumnisse das Feld bereitet worden war.
Wie Du mir, so ich Dir
Auch dass Kuba überhaupt zum Gegner der USA werden konnte, hat sich Washington vor allem selbst zu verdanken. Ganz in der eigenen Kalte-Krieg-Paranoia gefangen, stempelten die USA damals alles „Linke“ als sowjettreue Bedrohung ab - und schmiedeten von Anfang an Pläne gegen den jungen Fidel Castro, der nach seiner Revolution 1959 durchaus auf die USA zugehen hätte wollen. Spätestens als 1961 die US-Invasion in der kubanischen Schweinebucht aufs Blamabelste scheiterte, waren alle Chancen auf ein Miteinander vertan.

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Castro und Chruschtschow bei der UNO-Vollversammlung 1960
Auf sowjetischer Seite wiederum hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Ansicht verselbstständigt, man habe gleichsam einen natürlichen Anspruch auf Kräftegleichheit mit den USA. Weil die USA dem Kreml damals schon wirksam mit interkontinentalen Atomschlägen drohen konnten, ließ Chruschtschow daher ohne große Bedenken ab Anfang September 1962 Atomraketen per Schiff nach Kuba liefern - wie Du mir, so ich Dir. Dass die USA etwas dagegen haben könnten, kam offenbar niemandem in Moskau in den Sinn.
Castros betrunkenen Chauffeur ignoriert
Das Weiße Haus wiederum war fest davon überzeugt, Chruschtschow werde es angesichts der atomaren Übermacht der USA noch jahrelang bei leeren Drohungen bewenden lassen. So ignorierte es das Weiße Haus einfach, als spätestens ab 7. September 1962 auf allen Spionagekanälen Washingtons die Alarmglocken schrillten: Informanten berichteten täglich über neue Schiffslieferungen, den Bau von Abschussrampen - bis hin zu Castros Chauffeur, der in Havannas Nachtleben angeheitert von der Atommacht Kuba prahlte.
Kennedy und sein Stab stuften all diese Informationen als unglaubwürdig ein. Damit verstrich nicht nur wertvolle Zeit, in der man die Situation diplomatisch bereinigen hätte können: Das Weiße Haus machte im Gegenteil alles noch schlimmer, weil es sich - von den oppositionellen Republikanern unter Druck gesetzt - für kräftiges Säbelrasseln entschied, etwa die Einberufung von Nationalgardereservisten. Das verstand Moskau seinerseits als Indiz für eine tatsächliche Invasionsgefahr und beschleunigte seine Raketenlieferungen noch.

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Die Weltöffentlichkeit erfährt durch Kennedy von den Raketen
Und wieder eine Fehlentscheidung
Erst der 14. Oktober 1962 gilt jedoch als Beginn der Kuba-Krise. An diesem Tag fotografierte ein US-Aufklärer jene Raketenbasen, von denen die US-Nachrichtendienste ohnehin schon wussten. Der Unterschied zu all den anderen Beweisen davor war jedoch, dass Kennedy diesmal glaubte, was er zuvor nicht geglaubt hatte: Am 16. Oktober bekam er die Aufnahmen zu Gesicht und berief seinen Krisenstab ein. Dort dominierte tagelang der Streit, ob man Kuba gleich angreifen oder nur drohen sollte.
Gelegenheiten zum Gespräch suchte Washington nicht, im Gegenteil: Als der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko am 18. Oktober einen schon länger geplanten Besuch bei Kennedy absolvierte, tat das Weiße Haus so, als wisse man nichts von den Vorgängen in Kuba. Schließlich rang sich Kennedys Krisenstab zur Drohvariante durch: Am 22. Oktober informierte er in einer abendlichen TV-Ansprache die Öffentlichkeit, drohte im Fall des Abschusses einer Rakete mit einem atomaren Vergeltungsschlag und kündigte eine Seeblockade Kubas an.
„Unbewaffnete“ U-Boote mit Nukleartorpedos
Dass ein Krieg vermieden werden konnte, war vor allem dem Bruder des Präsidenten, Justizminister Robert Kennedy, zu verdanken, der Militärfantasien über einen Präventivschlag bremste. Es war ein glücklicher Zufall, denn die USA waren davon ausgegangen, dass die sowjetischen Raketen noch nicht einsatzbereit waren. Das Gegenteil war der Fall. Doch auch Robert Kennedys Taktik ging daneben: Statt der erhofften Einschüchterungswirkung hatten Washingtons Drohgebärden zur Folge, dass Moskau und Kuba umso sturer dagegenhielten.

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Castro kontert Kennedy per TV
Die Seeblockade brachte zahlreiche Beinahekonfrontationen mit sich. Einmal wurden sie im letzten Augenblick vermieden, weil die Amerikaner zurückwichen, dann wieder, weil die Russen abdrehten. Am heikelsten war jedoch der Moment am 26. Oktober, als die US-Flotte russische U-Boote brachial mit Wasserbomben zum Auftauchen zwang - weil man sich sicher war, dass sie nur schwach bewaffnet seien. Ein Irrtum mehr: Die U-Boote hatten Nukleartorpedos an Bord, und den Befehl, sie zu verwenden.
Einen Moment vom Atomschlag entfernt
Einen Tag später verhinderte der Offizier eines U-Bootes im letzten Augenblick und mit viel Überredungskunst, dass sein Kapitän - befehlsgemäß, da der Kontakt zu Moskau verloren gegangen war - „auf den Knopf drückte“. Stunden später wurde ein US-Aufklärungsflugzeug von den Sowjets abgeschossen. Das schien auch der Moment zu sein, in dem sowohl Kennedy als auch Chruschtschow „aufwachten“. Der US-Präsident verbot jegliche Vergeltung, und die ernsthaften Verhandlungen begannen. Schon einen Tag später war die Krise beigelegt.
Chruschtschow bekam die geforderte Garantie, dass die USA niemals auf Kuba einmarschieren würden und ordnete am 28. Oktober den Abzug der Nuklearwaffen aus Kuba an. Das tat er vor allem deshalb, weil ihm Kennedy dafür unter strikter beidseitiger Geheimhaltung versprochen hatte, US-Raketen aus der Türkei abzuziehen. Dass Kennedy damit nur nach außen als „Gewinner“ dastand, nutzte Chruschtschow wenig: Das Rückzieherimage war eines der Hauptargumente, um ihn wenig später als Sowjetführer zu demontieren.
Schreiben und Schweigen
Die bleibende Lektion für beide Staaten war jedoch, dass mangelnde Kommunikation schnell zur - unbeabsichtigten - Katastrophe führen kann. Wenig später war das berühmte rote Telefon, eine Direktverbindung zur direkten Klärung von Konfliktsituationen zwischen Washington und Moskau, installiert. „Rotes Telefon“ war in dem Fall allerdings eine Metapher: Denn gerade um übereilte und zu emotionelle Reaktionen oder Missverständnisse zu vermeiden, wählten die Supermächte die Schriftform.
Das rote Telefon war daher anfangs ein grauer Fernschreiber. In den 80er Jahren wurde auf Fax umgestellt. Heute verkehren Moskau und Washington im Fall des Falles per SMS miteinander. Beide Weltmächte haben aus der Kuba-Krise außerdem gelernt, dass Diskretion bei Konflikten nie schaden kann. Wann und was mit dem roten Telefon kommuniziert wurde - darüber wird von Washington und Moskau seit inzwischen 49 Jahren gemeinsam eisern geschwiegen.
Lukas Zimmer, ORF.at
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