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Soziale Frage wird zur Herausforderung

Die Zeiten einer Stadtplanung ohne Rücksicht auf Verluste sind auch in Brüssel vorbei. Verwaltungsreformen und neue Gesetze führten zu einer sensibleren und überlegteren Baupolitik. Zugleich konzentrierte sich die Stadt auf Erneuerungsprojekte. Die sollen auch dabei helfen, neue Herausforderungen zu meistern.

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Die Zeiten der Brüsselisierung seien vorbei, sagt der Historiker und Stadtforscher Eric Corijn im Gespräch mit ORF.at. „In den vergangenen 25 Jahren hat sich viel verändert.“ Entscheidend dazu beigetragen hat laut dem emeritierten Professor an der Vrije Universiteit Brussel die belgische Staatsreform von 1989. Mit dieser erhielt die Hauptstadtregion Brüssel ihre heutige Form und Verwaltung. Und das hatte auch zur Folge, dass die Verantwortung über Baugenehmigungen und Raumplanung nicht mehr allein Sache der Stadtverwaltung war.

Dazu kam Anfang der 1990er Jahre eine Reihe neuer Gesetze. Und nicht zuletzt habe sich auch das Bewusstsein innerhalb der Bevölkerung verändert, sagt Corijn. Für große Bauprojekte bräuchte es nun das Zusammenspiel zwischen Regionalverwaltung, Stadtregierung und Zivilgesellschaft. Das verhindert einen baulichen Wildwuchs wie in den 1960er Jahren. Die Kehrseite der Medaille: Große ikonische Bauprojekte haben ebenfalls kaum eine Chance auf Verwirklichung. „Kein großes Museum“, „keine Fußballarena“ seien in den letzten Jahrzehnten in Brüssel gebaut worden, so Corijn.

Nachbarschaftsverträge seit über 20 Jahren

Dafür begann Brüssel sich vermehrt auf den Erhalt und die Revitalisierung seiner innerstädtischen Gemeinden zu konzentrieren. Vor 22 Jahren führte die Hauptstadtregion die Contracts de Quartier (Viertelverträge) ein. Vier Jahre dauert ein solcher Vertrag. An seinem Ende soll die Revitalisierung eines Viertels stehen. Fast 80 solcher Erneuerungsprojekte fanden laut Stadtverwaltung bisher statt. „Es geht dabei nicht nur um Wohnungen, sondern auch um wirtschaftliche Entwicklung und soziale Aspekte“, sagt Corijn.

Brüssel braucht Steuerzahler

Für den Stadtforscher greifen diese Bereiche eng ineinander. Eine der Hauptaufgaben der Stadt sei es, auch für wohlhabendere Bevölkerungsgruppen attraktiv zu bleiben. „Brüssel muss versuchen, die Mittelklasse in der Stadt zu halten“, sagt Corijn. Der Grund dahinter ist simpel: Bereits jetzt pendeln mehr als die Hälfte aller Menschen, die in Brüssel arbeiten, täglich in die Stadt. Ein Großteil ihrer Steuern geht im föderal verfassten Belgien damit aber eben nicht an Brüssel.

Das Geld fehle der Stadt, um etwa in sozialen Wohnbau zu investieren, sagt Corijn. Nur acht Prozent aller Wohnungen in Brüssel gehörten sozialen Bauträgern. Auf der anderen Seite zahlen laut dem Stadtforscher 70 Prozent aller Mieter zu viel für ihre Wohnungen. Zugleich wächst die Stadt beständig. In den kommenden zehn Jahren rechnet die Stadt mit 150.000 zusätzlichen Einwohnern. Das wiederum heizt den Wohnungsmarkt weiter an.

Lösung für „paradoxe“ Situation gesucht

Eine mögliche Lösung dafür gleicht einer Gratwanderung: 2007 präsentierte die Regionalverwaltung von Brüssel den International Development Plan - und stieß dafür auch auf Kritik. Zum einen soll damit privaten Investoren der Zugang erleichtert werden. Das lässt die Sorge vor Immobilienspekulationen laut werden. Zum anderen will Brüssel damit die Gentrifizierung, also die gezielte Aufwertung von Stadtvierteln, vorantreiben.

Solche Entwicklungen sind nicht allein in Brüssel zu beobachten, sondern ein internationales Phänomen - und schwer umstritten. Mit der Aufwertung sollen wohlhabendere Bevölkerungsgruppen angezogen werden. Sie verdrängen zum Teil die bisherige, zumeist ärmere Bevölkerung. Zugleich steigen die Wohnungspreise, was den wirtschaftlichen Druck auf die übriggebliebenen Bewohner erhöht.

Gentrifizierung „führt zu Spannungen“, sagt auch Corijn. Allerdings gibt er zu bedenken: Es gebe kaum andere Möglichkeiten, um zugleich die Mittelschicht in der Stadt zu halten und eine Durchmischung der Bevölkerung zu erreichen. In den reicheren Vierteln hätten die Bewohner den Bau von Sozialwohnungen oder den Zuzug von Migranten bisher verhindert. So muss die Stadtverwaltung nun in den ärmeren Gemeinden die Quadratur des Kreises versuchen. Die Situation sei „voller Paradoxa“, sagt Corijn dazu.

Martin Steinmüller, ORF.at, aus Brüssel

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