Ohne Rücksicht auf Verluste
Zwanzig Jahre sind kein langer Zeitraum, noch nicht einmal eine Generation. In Brüssel reichten zwei Jahrzehnte jedoch, um das Bild der Stadt nachhaltig zu verändern. Ab den späten 1950er Jahren galt die Devise: Altes weg, Neues her. Auf Verluste wurde wenig Rücksicht genommen.
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Es war eine Zeit des Aufbruchs, des Optimismus, des Vertrauens in die Technologie. Kaum ein Gebäude drückt den Geist der späten 50er und frühen 60er Jahre besser aus als das Atomium am Rande Brüssels. Noch heute vermittelt das Wahrzeichen der Stadt eine Ahnung dieses Fortschrittsglaubens. Das überdimensionale Modell eines Eisenmoleküls war 1958 das Zentrum der Weltausstellung in Brüssel. Für die Welt war es die erste Expo nach dem Zweiten Weltkrieg. Für die Stadt war es der Beginn einer Ära der Abrissbirnen und Großbaustellen.
Stadtverwaltung und private Bauunternehmen arbeiteten Hand in Hand, um historische Gebäude mit Hochhäusern und Bürokomplexen zu ersetzen. Damit war Brüssel zwar nicht allein: In Paris entstand etwa der bis heute umstrittene Büroturm im Künstlerviertel Montparnasse. Es hat dennoch gute Gründe, dass diese Art der Stadtplanung später Brüsselisierung genannt werden sollte: Was Umfang und Ausmaß betrifft, sticht die Hauptstadt der EU weit hervor. Und das hat gerade auch mit dieser Hauptstadtrolle zu tun.
Europa nimmt sich Raum
Ab den späten 1950er Jahren holte die EU - beziehungsweise ihre Vorläuferorganisationen - große Teile der Verwaltung nach Brüssel. Die NATO folgte dem Beispiel und verlegte ihren Hauptsitz 1967 in die belgische Hauptstadt. Das Militärbündnis errichtete sein Hauptquartier am Stadtrand. Die europäischen Beamten zog es dagegen näher zur Stadtmitte. In den kommenden Jahren entstand - einen knappen Kilometer vom mittelalterlichen Hauptplatz Brüssels entfernt - das europäische Viertel.

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An das einstige Kloster erinnert nur noch der Name des Kommissionsgebäudes
Das gleichsam architektonische Symbol diese Entwicklung feierte 1969 seine Fertigstellung. Kreuzförmig sitzt das Gebäude der EU-Kommission am nordwestlichen Rand des Schuman-Kreisverkehrs. Heute drängt sich um den Platz eine Vielzahl an EU-Institutionen. Anfang der 60er Jahre war das noch anders. Bis heute erinnert der Name des Kommissionsgebäude daran: Berlaymont. So hieß das Frauenkloster mit Mädcheninternat, das hier bis 1962 stand. Davon ist heute ebenso wenig übrig wie von den meisten Gründerzeit- und Jugendstilhäusern, die einst die Straßen säumten.
Wer sich heute eine Luftaufnahme der Gegend ansieht, dem fällt auf: Die Grenzen des EU-Viertels sind leicht zu erkennen: Innerhalb von ihnen ist Grau die regierende Farbe, während rundherum Rot dominiert. Rot sind die ziegelgedeckten Giebeldächer der alten Häuser, grau die Flachdächer der Bürobauten. Sie verdrängten ab den 1960er Jahren die historischen Gebäude.
Hoch hinaus mit einem Hochhaus
Allerdings: Der Umbau Brüssels war nicht allein dem Zuzug der europäischen Institutionen geschuldet. Stadtplanung mit der Abrissbirne fand ebenso außerhalb des EU-Viertels statt. Monolithen gleich ragen die Bürotürme dieser Zeit noch heute aus dem Brüsseler Häusermeer. Mit ihren Beton- und Glasfassaden sehen sie einander oft zum Verwechseln ähnlich. Ganz anders als die ursprünglichen Gebäude, die dafür weichen mussten: darunter das alte Hauptpostamt oder die Halles Centrales, die mit einer Stahlkonstruktion überdachte innerstädtische Markthalle.

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Wer braucht Jugendstil, wenn er 25 Betonstockwerke haben kann?
Als bis heute größtes Sakrileg gilt vielen jedoch der Turmbau, dem Viktor Hortas „Maison du Peuple“ zum Opfer fiel. Horta gehörte zu den führenden Architekten des Jugendstils. Was Otto Wagner für Wien war, war Horta für Brüssel. Tatsächlich inspirierten Hortas Bauten Wagner zu seiner Jugendstilarchitektur. Das hielt die Stadtregierung 1964 aber nicht davon ab, eines seiner markantesten Gebäude abreißen zu lassen; und einen 25-stöckigen Betonturm an seine Stelle zu setzen. Auch der Protest von über 700 internationalen Architekten konnte daran nichts ändern.
International bekannter „Negativbegriff“
„Die Stadt Brüssel opferte klaren Verstandes symbolische Gebäude“, schreibt der Architekt Maurice Culot in einem 2004 erschienenen Buch über Brüssels Architektur nach 1950. Culot gehörte zu jenen Architekten, die sich vehement gegen die Brüsseler Stadtplanung aussprachen. Er und seine Kollegen waren es auch, die für diese Art des Städtebaus den Begriff Brüsselisierung prägten.
Culot ist also alles andere als unvoreingenommen, wenn er rund vier Jahrzehnte später schreibt: Der Begriff „Brüsselisierung wird international verwendet, um die Zerstörung einer Stadt in Friedenszeiten zu bezeichnen“. Bekannt ist der Begriff aber tatsächlich auch außerhalb Belgiens, bestätigt Andre Krammer, Architekt und Stadtforscher an der TU Wien. Und ja, er verstehe „Brüsselisierung als Negativbegriff“.
„Stadtumbau unter Ausschluss der Öffentlichkeit“
Doch warum ließ gerade Brüssel den Vorschlaghammer so rücksichtslos durch seine historischen Stadtteile schwingen? Eine Erklärung lässt sich in der Bevölkerungsstruktur der Stadt finden. Im Unterschied zu vielen anderen europäischen Städten leben in Brüssel sozial schwächere Einwohner eher im, beziehungsweise nahe am Stadtzentrum. Molenbeek zum Beispiel, einer der ärmsten Bezirke der Stadt, ist vom touristischen Stadtkern nicht einmal einen Kilometer entfernt. Die Mittel- und Oberschicht hat ihre Wohnungen und Häuser dagegen zumeist am Stadtrand.

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„Das Philips-Gebäude zerstörte die Nachbarschaft des Place de Brouckere“, schreibt Culot
Das sei bereits in der Nachkriegszeit so gewesen, sagt der belgische Sozialhistoriker und Stadtforscher Eric Corijn. Die Folge: Die Bürger, die über die Gestaltung der Innenstadt entschieden, wohnten selbst gar nicht dort. „Sie wollten eine nützliche und keine lebenswerte Stadt“, so Corijn. „Stadtumbau unter Ausschluss der Bevölkerung“ nennt es Krammer.
Der Kampf um Marolle
Doch nicht immer ließ sich die Bevölkerung auch ausschließen - zum Beispiel im Stadtteil Marolles. Der Bezirk grenzt direkt an den Büroturm, dem Hortas Maison du Peuple zum Opfer fiel. 1969 sollte Ähnliches mit dem Stadtviertel Marolle geschehen - ein Viertel im fast gleichnamigen Bezirk. Doch diesmal kam der Widerstand nicht nur von Architekten. Große Teile der Bevölkerung gingen gegen die Pläne auf die Straße. Ihr Protest ging als „Kampf um Marolle“ in die Stadtgeschichte Brüssels ein.

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„Hier ruhen der Entwickler und seine treue Ehefrau, die Bürokratie“ - augenzwinkernde Erinnerung an den Bürgerprotest
Es überrascht wenig, dass der Widerstand gerade hier so heftig ausfiel. Die Bewohner des Bezirks - zumeist Arbeiter und kleine Geschäftsleute - wurden täglich daran erinnert, wie Stadtplanung gegen die örtliche Bevölkerung aussehen konnte. Bereits hundert Jahre zuvor hatte die Regierung für ein Bauprojekt ein ganzes Viertel in Marolles geschleift.
Architekt als Schimpfwort
Der in seinen Dimensionen geradezu monströse Justizpalast wurde für die Bevölkerung zum Wahrzeichen baulicher Willkür und der Begriff „Schieven Architek“ zu einem der gröbsten Schimpfwörter im Dialekt des Bezirks. Beim Bau des Justizpalastes war der Widerstand der Bevölkerung noch an der staatlichen Autorität zerschellt. Hundert Jahre später war das anders. Von der Heftigkeit des Protests überrascht, machte die Stadtregierung einen Rückzieher.

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Seit fast 150 Jahren thront der Justizpalast über Marolles
Marolles’ erfolgreicher Widerstand markiert zugleich der Anfang vom Ende der Brüsselisierung. 1973 begann in Marolles ein großangelegtes Renovierungsprojekt. Dessen Ziel war der Erhalt und nicht der Abriss der historischen Gebäude. Das Vorhaben wurde damit zum Vorläufer der Nachbarschaftsverträge. Mit ihnen werden seit 1993 Stadtviertel in Brüssel gezielt renoviert und revitalisiert.
Letzte Erinnerung in verspiegeltem Glas
Ermöglicht hat das unter anderem die belgische Staatsreform von 1989. Mit ihr bekam die Region Brüssel-Hauptstadt ihre heutige Form und Verwaltung. Raumordnung und Stadtplanung liegen nun nicht mehr allein in den Händen der Bürgermeister, sondern ebenso des Regionalparlaments. Für den Historiker Corijn kommt mit der Einrichtung der Hauptstadtregion die Brüsselisierung offiziell zu einem Ende.
Wenngleich eine letzte Erinnerung an die Brüsselisierung damals erst im Bau war: Zwischen 1988 und 1992 entstand östlich des Place Luxembourg das Hauptgebäude des Europäischen Parlaments: ein monumentales Bauwerk mit verspiegelter Fassade außen und einer abgeschlossenen Infrastruktur innen. Sogar einen Friseur gibt es im Gebäude. Viele sehen in dem Bauwerk, das eigentlich die EU-Bürger repräsentieren sollte, Architektur gewordene Bürokratie. „Es ist gegen die Stadt, gegen die Umgebung gebaut worden“, sagt Corijn.
Ganz neu und doch alt
Vielleicht zeigt sich in diesem Vorwurf am Deutlichsten, dass und wie sich die Zeiten geändert haben. „Gegen die Umgebung gebaut“ - das kann man dem jüngsten Neuzugang in der Reihe der EU-Bauwerke kaum vorhalten: Im Jänner wurde in Brüssel das neue EU-Ratsgebäude offiziell eröffnet. Hier werden die Minister und Regierungschef der EU-Staaten in Zukunft ihre Treffen abhalten. Die Sitzungssäle befinden sich im Inneren einer über 40 Meter hohen gläsernen Amphore, die wiederum in einem transparenten Würfel steht.

ORF.at/Philippe Samyn and Partners architects & engineers - lead and design partner, Studio Valle Progettazioni architects, Buro Happold engineers
Eine Fassade als Symbol: Hunderte alte Fensterrahmen aus ganz Europa
Auf zwei Seiten integriert der Bau eines der letzten historischen Gebäude der Umgebung: den im Stil des Art-Deco erbauten Residence-Palast. Noch außergewöhnlicher ist aber der übrige Teil der Fassade. Sie besteht aus Hunderten Fensterrahmen, genauer gesagt Hunderten alten Fensterrahmen. Sie stammen allesamt aus Abbruchhäusern in den EU-Staaten. Was wäre wohl die Reaktion gewesen, hätte man dieses Konzept auf der Weltausstellung 1958 präsentiert?
Links:
Martin Steinmüller, ORF.at, aus Brüssel