„Jack Londons Tod beendet ein Leben so abenteuerlich wie seine berühmten Geschichten“, hat die „New York Times“ 1916 in ihrem Nachruf auf den US-amerikanischen Schriftsteller geschrieben. Anfang des 20. Jahrhunderts galt London als der kommerziell erfolgreichste US-Autor, und noch heute finden seine Werke weltweit Millionen Leser. Am Dienstag jährt sich der Todestag zum 100. Mal.
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London gehört zu jenen Autoren, die eine säuberliche Trennung zwischen ihrer Person und ihrem Werk schier unmöglich machen: Man muss beides mögen – oder eben nicht. Wer maskuline Kämpfernaturen und zu kühnen Abenteurern stilisierte Helden mag, die unüberhörbar ins Horn eines nietzscheanischen „Übermenschentums“ blasen und den eigenen Daseinskampf zum fatalen Maß aller Dinge erheben, wird hervorragend bedient.
Die legendäre Szene in der TV-Verfilmung des Romans „Der Seewolf“, in der Kapitän Larsen eine rohe Kartoffel zerquetscht, verdeutlicht, worauf es in einer von Gewalt beherrschten Welt ankommt: „Macht ist Recht. Das ist alles, was dazu zu sagen ist. Schwäche ist Unrecht“, lässt London seinen Seewolf sagen. Hundert Jahre nach Londons Tod klingt vieles nach simplen Männerphantasien aus einer vorfeministischen Zeit.
Das Wolfsgesetz des Stärkeren
Doch Londons Abenteurertum ist differenzierter, sein literarisches Schaffen experimentierfreudiger und vielseitiger - wie etwa seine beiden berühmten Tierfabeln „Der Ruf der Wildnis“ und „Wolfsblut“ deutlich machen. Hier wird die darwinistische Interpretation des Lebens als „Kampf ums Dasein“ in eine Parabel auf den Kapitalismus verwandelt.
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Raimund Harmstorf als Kapitän Wolf Larsen alias Seewolf
Am Spannungsverhältnis zwischen Wolf und Hund führt London exemplarisch vor, wie viel Bestie im Menschen steckt, und knüpft damit an Friedrich Engels an, der schreibt: „Darwin wusste nicht, welch bittere Satire er auf die Menschen (...) schrieb, als er nachwies, dass die freie Konkurrenz, der Kampf ums Dasein, den die Ökonomen als höchste geschichtliche Errungenschaft feiern, der Normalzustand des Tierreiches ist.“ Mit sozialistischen Ideen und kommunistischen Utopien frei von jedem theoretischen Zwang hält London dagegen.
„Ich bin Sozialist“
Genaue Vorstellungen, wie diese aussehen sollen, sind in seinem Werk nicht erkennbar, aber er entwickelt seine alternative Welt jeweils als Gegenmodell zum bestehenden System. In „Vor Adams Zeiten“ etwa verlagert er das Geschehen in eine prähistorische Zeit, in „Die Eiserne Ferse“ in eine ferne Zukunft. Aber indem er die Mechanismen von Kapitalismus und Imperialismus freilegt, kommt kein Zweifel daran auf, dass seine Geschichten die Konflikte im Hier und Jetzt behandeln.
Stoff dafür findet London in seinem Leben: „Ich bin Sozialist, erstens weil ich als Proletarier geboren wurde und bald erkannte, dass der Sozialismus die einzige Rettung für das Proletariat ist; zweitens weil ich, als ich aufhörte, Proletarier zu sein und ein Parasit (ein Kunstparasit, wenn Sie wollen) wurde, erkannte, dass der Sozialismus die einzige Rettung für die Kunst und den Künstler ist.“
„Wo die Winde des Abenteuers wehen“
Mit bürgerlichem Namen John Griffith Chaney als uneheliches Kind in San Francisco geboren, wächst London in ärmlichen Verhältnissen auf. Früh muss er die Schule aufgeben und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Er befindet sich „im Keller der Gesellschaft, in den unterirdischen Tiefen des Elends, über die man artigerweise nicht spricht, (...) im Schlacht- und Leichenhaus unserer Zivilisation“.
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Goldsucher und Glücksritter passieren den Chilkoot-Pass nach Alaska
Als Teenager betätigt er sich als Austernpirat, segelt auf Robbenjagd bis nach Japan, durchquert als Tramp die USA und nimmt 1894 am Hungermarsch nach Washington teil. „Ich wollte da hin, wo die Winde des Abenteuers wehten“, so London. Nach dem nachträglichen Schulabschluss und einem gescheiterten Studiumsversuch beteiligt er sich am berühmten Klondike-Goldrausch in Alaska - ohne Erfolg, aber um Stoff für seinen Roman „Lockruf des Goldes“ reicher.
1.000 Wörter pro Tag
London entschließt sich, hauptberuflich Schriftsteller zu werden, und legt sich ein Schreibpensum von täglich mindestens 1.000 Wörtern auf, das er bis an sein Lebensende beibehält. Mit seinem ersten Band Kurzgeschichten unter dem Titel „Der Sohn des Wolfes“, den er im Jahr 1900 nach knapp 100 Absagen von Zeitungen und Verlegern herausbringt, trifft er den Nerv der Zeit und landet einen Bestseller.
Ab dann veröffentlicht London in rascher Folge mehr als 50 Bücher, darunter 27 Romane, sechs autobiografische Werke, vier Dramen, politische Essays, Reportagen und 196 Kurzgeschichten. Schnell avanciert er zum meistgelesenen Schriftsteller seines Landes und macht ein Vermögen. In seinem Roman „Martin Eden“ verarbeitet er später seinen Eifer um literarische Anerkennung.
Knapp, poetisch einfach und leicht verständlich ist die Sprache, klar die Konstruktion der Texte, aufgehoben die Grenze zwischen „literarisch“ und „trivial“ - auch deshalb entfalten sie eine erhebliche Wirkung, bis hin zu den berüchtigten Tränendrüsen. Londons „dirty realism“ wird stilgebend für eine ganze Autorenriege nach ihm, darunter Ernest Hemingway, um nur einen zu nennen.
„Leben, nicht einfach existieren“
Er begibt sich als Undercover-Reporter in die Elendsviertel Londons, als Kriegskorrespondent nach Korea und als Seefahrer in eine Leprakolonie auf Hawaii. Ob unter Goldsuchern, Lohnarbeitern oder Ureinwohnern - stets schreitet London die Ränder der Gesellschaft ab, wo er eine Menschlichkeit entdeckt, die ihn von einer sozialistischen Weltgemeinschaft und -sprache träumen lassen. „Man findet seinen wahren Weg. Ich habe den meinen gefunden“, schreibt London.
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Jack London mit seiner zweiten Ehefrau Charmian Kittredge
Man muss nicht jedes seiner Urteile unterschreiben oder jeden Protagonisten gleich gültig finden. Feuer und Neugier, Neues zu entdecken, Versunkenes zu heben, Abseitiges neu zu belichten, sind weit gewichtiger am Werk als die Lust, die Moralkeule zu schwingen. Hier will einer Leserinnen und Lesern nicht seine Selbstdarstellung reindrücken, sondern ihnen neue Welten aufschließen, ihre Sehnsucht nach der Ferne wecken, sie staunen machen und ihr kritisches Bewusstsein schärfen. „Die Funktion des Menschen ist zu leben, nicht einfach zu existieren.“
Lebenswerk „Beauty Ranch“
Mit seiner zweiten Ehefrau Charmian Kittredge bezieht er 1910 eine Farm im kalifornischen Sonoma County, die er „Beauty Ranch“ nennt. Dort will er ein nicht entfremdetes Leben führen. „Es gibt kein besser Leben als das Landleben - es ist das einzig wirklich natürliche Leben“, notiert London. Vergleichbar heutigen Biolandwirtschaften verfolgt er nachhaltige Anbaumethoden ohne Düngemittel und eine artgerechte Tierhaltung. So wurde etwa sein Schweinestall weltweit als „Pig Palace“ (Schweinepalast) berühmt.
Buchhinweise
Alfred Hornung: Jack London. Lambert Schneider Verlag, 320 Seiten, 25,70 Euro.
Michel Viotte, Noel Mauberret: Die vielen Leben des Jack London. Knesebeck, 240 Seiten, 36 Euro.
London sieht sich zunehmend eher als Landwirt denn als Schriftsteller und gibt an, nur noch zur Aufrechterhaltung seiner Ranch zu schreiben. Diese betrachtet er als sein Lebenswerk. Sein Privateigentum sollte sich verwandeln in „sozialistisches Eigentum“ einer autonomen „Agro-Stadt“ mit dem Namen „Independence“, so sein Wunsch. Heute ist die „Beauty Ranch“ als Museum zu besichtigen.
„Im Königreich des Alkohols“
Londons Leben ist geprägt von jahrelangem Alkoholmissbrauch. „König Alkohol“, hält London in dem so betitelten autobiografischen Werk fest, „ist alles andere als Fiktion. Es geht um nackte Tatsachen, ohne jede Beschönigung. Ich berichte hier über meine eigenen Erfahrungen im Königreich des Alkohols.“ Als Argumentationshilfe für eine „totale Prohibition“ engagiert er sich auch für Frauenrechte.
Mit 40 stirbt London. Bis heute halten sich hartnäckig Gerüchte eines Suizids, wonach er sich zu Tode getrunken habe. Im Totenschein heißt es lapidar: Nierenkolik mit Urämie. Das Schlusswort gehört London selbst: „Das Abenteuer ist nicht tot. Ich weiß das, da ich eine lange und innige Beziehung zu ihm geführt habe.“