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Schreiben als Form des Schweigens

Die Schriftstellerin Ilse Aichinger ist am Freitag wenige Tage nach ihrem 95. Geburtstag in Wien gestorben. Mit ihrem 1948 erschienen Roman „Die größere Hoffnung“ wurde sie zu einer der wichtigsten Stimmen der Nachkriegsliteratur.

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Geboren wurde Aichinger mit ihrer Zwillingsschwester Helga am 1. November 1921 als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines Lehrers in Wien. Ihre Kindheit, die durch die frühe Scheidung ihrer Eltern geprägt war, verbrachte sie in Linz. Später wuchs sie in der Obhut der mütterlichen Großeltern in Wien auf und musste mit ansehen, wie ihre Großmutter von den Nazis vom Schwedenplatz in einem Lastwagen abtransportiert wurde.

Werk vom Krieg geprägt

„[Der] Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben. Ich war sehr jung und hatte die Gewißheit, daß meine Großmutter, die mir der liebste Mensch auf der Welt war, zurückkommt. Dann war der Krieg zu Ende, der Wohlstand brach aus, und die Leute sind an einem vorbeigeschossen. Das war noch schlimmer als der Krieg“, sagte Aichinger 1996 der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“.

Ilse Aichinger und Dortmunds Bürgermeister Heinrich Sondermann im Jahr 1971

AP/dpa/Heinz Ducklau

Ilse Aichinger bei der Überreichung des Nelly-Sachs-Preis 1971

Laut eigenen Worten wollte Aichinger nie Schriftstellerin werden. Ein Medizinstudium konnte sie aufgrund der Rassengesetze erst nach dem Krieg beginnen, doch brach sie dieses bereits nach fünf Semestern ab, um ihren ersten, schon 1942 begonnenen Roman „Die größere Hoffnung“ fertigzustellen. Das Schreiben habe es ihr ermöglicht, auf der Welt zu bleiben. „Ich glaube, dass ich es nötig gehabt habe, sonst hätte ich es nicht getan.“

TV-Hinweis

Das Literaturmagazin „les.art“ auf ORF2 würdigt Ilse Aichinger am Montag dem 14. November um 23.25 Uhr mit einem Nachruf.

Das Buch, in dessen Zentrum eine Gruppe jüdischer Kinder im Wien der Nazi-Zeit steht, fand bei seinem Erscheinen zunächst wenig Zustimmung. Der Davidstern bedeutet darin nicht die geringere Hoffnung zu leben, sondern die größere, die Hoffnung „auf alles“, Leben und Tod, Annahme des Leidens und Mut zur Angst.

„Spiegelgeschichte“ als literarischer Durchbruch

Ab 1950 arbeitete Aichinger in Frankfurt als Lektorin bei S. Fischer sowie an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. 1951 nahm sie erstmals an der Jahrestagung der „Gruppe 47“ in Bad Dürkheim teil. 1952 erhielt sie den Preis dieser Gruppe für die „Spiegelgeschichte“ - mit dem Text, der das Leben rückwärts von der Bahre bis zur Wiege erzählt, gelang ihr der literarische Durchbruch.

Ziel des Lebens, so Aichingers Botschaft darin, sei der Tag der Geburt, „an dem du schwach genug bist“ - es gehe darum, alles zu verlernen, auch und besonders die Sprache. Sie näherte sich zunehmend offenen literarischen Formen an, in denen lineare, kausale Zusammenhänge zugunsten sprachlicher Assoziationen in Hintergrund treten.

Rückzug aus Öffentlichkeit

1953 heiratete Aichinger ihren Schriftstellerkollegen Günter Eich, den sie auf einer Tagung der Gruppe 47 kennengelernt hatte. Die gemeinsame Tochter Mirjam (Jahrgang 1957) wurde Bühnenbildnerin, der Sohn Clemens Eich (1954), Schriftsteller und Schauspieler, verunglückte 1998 tödlich in Wien.

Ilse Aichinger

APA/Herbert Pfarrhofer

Ilse Aichinger bei der Ausstellung „Ilse Aichinger - Fotografie von Stefan Moses“ im Jahr 2007

Die Familie lebte zunächst in verschiedenen Dörfern Bayerns, dann im österreichisch-bayrischen Grenzort Großgmain. 1972 starb Günter Eich, 1984 übersiedelte Aichinger nach Frankfurt, seit Ende 1988 lebt sie wieder in Wien. Nach dem Tod ihres Mannes zog sich Aichinger weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück.

Ungefragtes Leben als „Zumutung“

„Ich habe es immer als eine Zumutung empfunden, daß man nicht gefragt wird, ob man auf die Welt kommen will. Ich hätte es bestimmt abgelehnt“, sagte sie der „Zeit“. Den Tod sehnte sie seit über 20 Jahren herbei: „Ich will tot sein, aber sterben möchte ich auch nicht, weil ich einige Male mitangesehen habe, wie lange das dauern kann.“

Ihre Arbeit bezeichnete Aichinger als Tarnkappe. „Schreiben kann eine Form zu schweigen sein“, sagte Aichinger einst. Sie sah das Schreiben aber auch als harten Job: „Unlängst hat mir ein Freund erzählt, 70 Prozent aller Autoren auf der Welt sind Alkoholiker. Es wundert mich nicht“, so Aichinger 1990 gegenüber dem „Standard“.

Dichter Werkekanon

Zu Aichingers wichtigsten Veröffentlichungen den ihrem Erstlingswerk „Die größere Hoffnung“ zählen „Zu keiner Stunde - Szenen und Dialoge“, „Besuch im Pfarrhaus“ und „Knöpfe“, „Wo ich wohne“, „Eliza, Eliza“, „Auckland“, „Schlechte Wörter“, „Verschenkter Rat“, „Meine Sprache und ich“ und „Kleist, Moos, Fasane“.

2005 erschien der Band „Unglaubwürdige Reisen“, der eine Auswahl ihrer Feuilletons, Anmerkungen und Betrachtungen versammelte, die Aichinger ab 2001 in der Zeitung „Der Standard“ veröffentlicht hatte. 2011 folgten in der Edition Korrespondenzen unter dem Titel „Es muss gar nichts bleiben“ ein Band mit Interviews von Aichinger. Ihr Vorlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

„Schweigen brechen und bewahren“

Zu den vielen Auszeichnungen, mit denen Aichinger geehrt wurde, zählen der Anton-Wildgans-Preis (1968), der Petrarca-Preis (1982), der Große Österreichische Staatspreis für Literatur (1995) und im Vorjahr der Große Kunstpreis des Landes Salzburg. Die Jury des Joseph-Breitbach-Preises, der höchstdotierte Auszeichnung für Schriftsteller in Deutschland, den sie im Jahr 2000 erhielt, lobte Aichingers „strenge, hellsichtige, unerhört konzentrierte, oft geisterhaft wirkenden Arbeiten“, die „das Schweigen zugleich brechen und bewahren“.

In der Begründung für die Verleihung des „Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln“ (2002) hieß es: „Ilse Aichingers Werk beschreibt auf vielschichtige Weise die Möglichkeiten, die Barrieren zwischen konstruktivem Zusammenleben und gegenseitigem Unverständnis zu überwinden.“ Ihr 95. Geburtstag wurde mit zahlreichen Schwerpunkten gefeiert. Ab Samstag lädt etwa das Ilse-Aichinger-Haus zu einem „Nachmittagskino. Nach Ilse Aichinger“ ein, denn die Autorin war eine begeisterte Kinogängerin.

„Vor emotionaler Erstickung bewahrt“

„Ilse Aichinger war ein Mensch, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg den Mut fand, die Fenster zu den gequälten und gedemütigten Seelen dieser Stadt aufzureißen. Ein fast schon revolutionärer Kraftakt, der sie der Anfeindung preisgab, das Land jedoch vor der emotionalen Erstickung bewahrte“, so Wiens Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny. Aichinger vermochte es, „in Sprachsetzung und Themenbildung Wegbereiterin für ein anderes Österreich zu werden“, so Kulturminister Thomas Drozda.

Gerhard Ruis von der IG Autorinnen und Autoren schrieb unter anderem, Aichingers Werk habe tiefe Spuren gezogen. Ihre Arbeit sei ein Geschenk für die deutschsprachige Literatur. Einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Zeit und der Kultur im Gesamten sieht ÖVP-Kultursprecherin Maria Fekter in Aichingers Werk. Auch Nationalratspräsidenten Doris Bures zeigte sich betroffen: Österreich verliere eine große Tochter.

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