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Protestpotenzial unterschätzt

Nie zuvor in der jüngeren Geschichte hat der Ausgang einer US-Präsidentschaftswahl derartige Schockwellen rund um den Globus geschickt: Mit Donald Trump zieht der Anführer einer wutgeladenen Protestbewegung in das Weiße Haus ein. Kommentatoren brachten es auf den Punkt: Jene „Wut“ der Bevölkerung sei es gewesen, die man unterschätzt habe.

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Erst am Ende des Wahlkampfs war es den Republikanern einigermaßen gelungen, Trump auf die gewünschten Themen der Partei zu zwingen - davor hatte man lange zusehen müssen, wie er ausschließlich Bevölkerungsgruppen und politische Gegner diffamierte, dazu eine beinahe unüberschaubare Fülle unkontrollierter Tweets absetzte und sachliche parteikonforme Aussagen mangels politischer Erfahrung gewissenhaft aussparte.

Überzeugende Distanz zur Politik

Ein Umstand, den ihm letztlich nicht nur überzeugte und Trump-skeptische Republikaner nachsahen, sondern auch eine Vielzahl jener, die sich von der politikfernen Anti-Establishment-Haltung am besten vertreten fühlte. Denn die Wählerschaft, die Trump am Wahltag auf sich vereinen konnte, kommt aus im Vorfeld teilweise völlig unvermuteten Bevölkerungsgruppen. Verstärkend wirkte zudem, dass Konkurrentin Clinton die ursprünglich ihr zugeordneten Gruppen weit weniger für sich begeistern konnte.

Trump Fans

AP/Evan Vucci

Die Mehrheit der Trump-Wähler ist männlich - doch auch viele Frauen stimmten nicht gegen ihn

Clinton ließ bei Frauen aus

Ein Paradebeispiel für diesen für Trump gewinnbringenden Umstand sind die Frauen. Die sexistischen, frauenfeindlichen Positionen Trumps konnte Clinton deutlich weniger als im Vorfeld angenommen für sich verbuchen, wie eine Reuters/Ipsos-Umfrage zu Wahlmotiven ausweist: Zwar erhielt Clinton von Frauen zwischen 18 und 34 Jahren deutlich mehr Unterstützung als Trump, insgesamt aber betrug ihr Vorsprung bei Frauen gerade einmal zwei Prozentpunkte.

Zum Vergleich: Der scheidende Präsident Barack Obama schnitt 2012 bei Frauen sieben Prozentpunkte besser ab als sein damaliger republikanischer Herausforderer Mitt Romney. Auch bei Hispanics, Afro- und Asian Americans bekam Clinton nicht den Rückhalt, der im Vorfeld erwartet worden war. Im Vergleich zur Wahl Obamas vor vier Jahren schnitt die Demokratin noch dazu gegen einen Herausforderer, der diese Gruppe regelmäßig verschmähte und gegen sie hetzte, deutlich schlechter ab.

Grafik zum Wahlverhalten in den USA

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/Washington Post

„Weiß gewinnt“

Das Magazin „Slate“ analysierte diesen Umstand mit dem Titel „Weiß gewinnt“. Die USA seien nach wie vor jenes Land, das George Wallace (er sprach sich als Präsidentschaftskandidat für die Rassentrennung aus) hervorgebracht und Emmett Till (einen 14-jährigen Afroamerikaner) umgebracht habe. Man könne nur hoffen, dass unter Trump kein neuer Tiefpunkt erreicht werde. Die „New York Times“ („NYT“) sehe eine „Revolte“ durch den politisch völlig unvorbereiteten Trump, die das Land nun vor einen „Abgrund“ stelle.

Trump Fans

Reuters/Jonathan Ernst

Trump-Anhänger im „Rope. Tree. Journalist“-Shirt (dt. „Seil. Baum. Journalist“)

Trump in Metropolen stärker als erwartet

Einen Abgrund, den nicht einmal die Wähler in den Ballungszentren erkennen wollten - auch hier ließ Clinton aus, obwohl dort in der Regel viele Anhänger der Demokraten leben. Ihr Vorsprung auf Trump betrug dort gerade einmal sechs Prozentpunkte. Aus den ländlichen Regionen konnte Trump die breite, gewinnbringende Anhängerschaft rekrutieren: In diesen Gebieten schnitt Trump um satte 27 Prozentpunkte besser ab. Vor allem im industriell geprägten Nordosten des Landes, dem einst florierenden und inzwischen vom wirtschaftlichen Abschwung gebeutelten „Rostgürtel“, konnte Clinton nicht wie erwartet punkten.

Außerdem punktete Trump insbesondere bei Wählern ohne höhere Ausbildung. Insgesamt betrug sein Vorsprung auf Clinton in dieser Gruppe zwölf Prozentpunkte. Bei weißen Männern ohne höheren Bildungsabschluss schnitt er sogar um 31 Prozentpunkte besser ab, bei weißen Frauen ohne Abschluss waren es 27 Prozentpunkte. Viele US-Kommentatoren werteten dies als Votum einer sich zu wenig von Washington vertreten fühlenden Bevölkerung.

Trump Fans

Reuters/Carlo Allegri

Fromme Bitte eines Trump-Fans nach „Erbarmen mit Amerika“

Überraschendes Nachsehen

Überraschend auch das Nachsehen, das Trump vonseiten der Evangelikalen zuteilwurde: Streng gläubige weiße Amerikaner hielten Trump die Treue - trotz sexueller Missbrauchsvorwürfe, die gegen den Milliardär im Wahlkampf erhoben wurden und als definitiv unvereinbar mit den Wertevorstellungen dieser Bevölkerungsgruppe galten. Etwa 76 Prozent der Evangelikalen - und damit überraschend viele - gaben an, für Trump gestimmt zu haben. Überraschend auch, dass 52 Prozent der US-Katholiken für Trumps stimmten - mehr dazu in religion.ORF.at.

Valentin Simettinger, ORF.at

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