Kalte Schlote und muskulöse Kühe
Zwar hat die belgische Regierung am Donnerstag doch noch eine Einigung mit der Wallonie verkünden können. Die französischsprachige Provinz Belgiens wird aber auch in Zukunft Sinnbild für den Widerstand gegen das Freihandelsabkommen CETA bleiben. Der wallonische Widerstand mag auch innenpolitische Gründe haben. Doch es liegt nicht allein daran, dass die Wallonie zur Speerspitze gegen das Abkommen wurde.
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„Charleroi ist ein Museum der Globalisierung“, sagt Nicolas Buissart. Seit acht Jahren führt er Besucher durch die größte Stadt der Wallonie. Der Künstler zeigt Touristen allerdings ein Charleroi, das sich nicht in den offiziellen Tourismusbroschüren findet. Buissarts Stadtführungen, er nennt sie „City Safaris“, führen an touristische Nichtorte.
Die Plätze geben Zeugnis von Verfall, fehlgelaufener Politik und einer Region, die bereits länger wirtschaftlich aus dem Tritt geraten ist. Und sie machen ein Stück weit verständlich, warum sich gerade in der kleinen Wallonie ein dermaßen großer Widerstand gegen CETA gebildet hat. 70 Prozent der Bevölkerung sei gegen das Abkommen, sagt der Politikwissenschaftler Markus Wunderle.
Eine Stadt in der Krise
Zum Gesicht dieses Widerstands wurde der Ministerpräsident der Region, Paul Magnette. Seit wenigen Tagen ist der wallonische Regierungschef wohl ganz Europa bekannt. Was schon weniger wissen: Seit 2012 ist der sozialdemokratische Politiker Bürgermeister von Charleroi jener Stadt, die 2008 in einer Umfrage der niederländischen Tageszeitung „De Volkskrant“ zur „hässlichsten Stadt der Welt“ gekürt wurde.

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Bei aller Polemik, die in diesem Urteil liegt, steht fest: Die drittgrößte Gemeinde Belgiens steckt in der Krise - und das bereits seit Langem. Auf Charlerois Straßen ereignen sich überdurchschnittlich viele Verbrechen – vielleicht auch, weil Arbeit schwer zu bekommen ist. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 25 Prozent. Zehn Prozentpunkte über dem belgischen Durchschnitt.
CETA geht in die nächste Runde
28 Regierungschefs der EU waren bereit, am Donnerstag das Freihandelsabkommen CETA zu unterzeichnen. Aber die Wallonie legte sich quer. Jetzt zeichnet sich eine Einigung ab.
Rostende Zeugen der Abwanderung
Wer Buissart folgt, bekommt zumindest eine Ahnung, warum das so ist: Westlich der Innenstadt, keine zehn Minuten Fußweg vom Bahnhof entfernt, liegen die Überreste dessen, was einmal der ganzen Stolz der Stadt und der Region war. Jahrzehntelang war Charleroi ein Zentrum der wallonischen Stahlindustrie: Heute stehen davon nur noch Ruinen. Verlassene Industriehallen, kalte Schlote und rostende Kräne zeugen von der Abwanderung in Richtung günstiger Produktionsländer.

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Buissart sucht in Charleroi das Morbide und Verfallene
Vor dem industriellen Niedergang seit den 1960er Jahren war die Sambre eine der wichtigsten Frachtrouten Belgiens. Heute sieht man kaum noch ein Frachtschiff auf dem Fluss. Umso unpassender scheint es, dass die Sambre in Charleroi mehr einem großen Kanal gleicht. In einem Bett aus Beton zieht das Wasser träge dahin. In anderen Städten laden Flussufer zum Promenieren ein. In Charleroi ist der eingemauerte Fluss nur ein weiteres Mosaik im Bild einer Stadt, die nicht mehr zu sich selbst findet.
Die Gemeinde versucht seit Jahren in die Stadterneuerung zu investieren. Bisher mit dürftigem Erfolg. „Im Zentrum von Charleroi gibt es nur Administration und Prostitution“, sagt Buissart. Das mag so überspitzt sein, wie das Urteil der hässlichsten Stadt. Aber es lässt sich nicht von der Hand weißen: Charleroi tut sich allen Bemühungen zum Trotz schwer, sein schlechtes Image loszuwerden.
Über 2.000 Arbeitsplätze weg
Auch die jüngste Meldung, mit der es Charleroi europaweit in die Medien schaffte, war keine positive. Der US-Maschinenhersteller Caterpillar kündigte Anfang September an, sein Werk nördlich der Stadt zu schließen. Über 2.000 Menschen arbeiten zurzeit in der Fabrik in Gosselies.

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Caterpillar will nicht mehr länger in der Wallonie produzieren
Wer von Charleroi in Richtung Namur, der Hauptstadt der Wallonie, fährt, kommt fast direkt daran vorbei. Noch stehen dort Baumaschinen in Reih und Glied, fahren mit Baggern beladene Tieflader auf die Autobahn auf. Im April 2017 wird damit Schluss sein. Die Nachfrage sei nicht mehr groß genug und die Produktion an dem belgischen Standort zu teuer, argumentiert das US-Unternehmen den Schritt.
Die Angst vor dem Agrardumping
Angst vor der billigen Produktion im Ausland hat auch Laurent Gomand. Wenngleich es ihm nicht um Baumaschinen geht. Der Landwirt fürchtet sich vor den billigen landwirtschaftlichen Produkten, die er in Kanada vermutet. Die belgischen und die kanadischen Produkte „sind nicht miteinander vergleichbar“, sagt er. Der Landwirt besitzt zweihundert Weißblaue Belgier. Die Rasse ist für die Wallonen eine Art Nationalheiligtum – und soll es sogar in die Zusatzerklärung zu CETA geschafft haben.

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Zu viele Muskeln für eine natürliche Geburt
Eine Genmutation lässt bei den Tieren die Muskeln ungehemmt weiterwachsen. Das sorgt für Rinder mit Körpern wie Bodybuilder – und einem besonders fettarmen Fleisch. Die vielen Muskeln haben aber einen Nachteil: Sie machen eine Geburt auf natürlichem Weg unmöglich. Jedes Kalb muss per Kaiserschnitt auf die Welt geholt werden. Auf Gomands Hof war es erst vor einem Tag wieder so weit. Auf der Flanke der Kuh beginnt die Narbe gerade erst zu verheilen. Ein Anblick, ein bisschen wie aus einem Gruselfilm - wenn auch nicht für den Landwirt: „Ganz normal“ sei das, sagt er.
Lob von ungewohnter Seite
Weniger normal scheint da schon sein Lob für Magnette zu sein. Der Ministerpräsident der Wallonie „hat sich sehr verdient gemacht“, sagt Gomand. Lobende Worte für einen Sozialisten aus dem Mund eines Bauern - das ist auch in der Wallonie nicht gewöhnlich. Gomand ist überdies Vizepräsident des wallonischen Bauernbunds. Die Bauernvertretung ist kaum für ihre Nähe zu den Sozialdemokraten bekannt.

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Die wallonischen Bauern werden in der Politik traditionell von den konservativen Christdemokraten vertreten. Für Politikwissenschaftler Wunderle ist die Nähe zu den Bauern auch der Hauptgrund, warum sich die Konservative der Wallonie - ganz anders als die restlichen Volksparteien in Europa - ebenso vehement gegen das Abkommen stemmte.
Allerdings: Die Lorbeeren für den wallonischen Widerstand trägt zurzeit Magnette davon. Auch innerhalb der Wallonie ist es vor allem der Premier, den die Menschen mit dem Kampf gegen CETA verbinden. Zumindest noch einen Tag bevor Belgien mit der Wallonie eine CETA-Übereinkunft erzielte: Man sei stolz auf den eigenen Ministerpräsidenten. Er kämpfe gegen ein unfaires Abkommen und für die Bürger, so der Tenor auf den Straßen von Namur.
Ein Teil Europas
Und in noch einem Punkt sind sich viele Wallonen in diesen Tagen einig: Der Kampf der Wallonie gegen CETA gehe über die Grenzen der Region hinaus - und gelte eigentlich dem ganzen Kontinent. „Man redet über die Wallonie und nicht über Europa. Das ist schade“, sagt auch Landwirt Gamond. Zumindest die europäischen CETA-Gegner würden dem wohl zustimmen.

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Das wallonische Parlament in Namur wurde zum Sinnbild des CETA-Widerstands
Tatsächlich steht die Wallonie mit ihren Problemen in Europa nicht alleine da. Industrielle Abwanderung und eine Landwirtschaft, die zunehmend unter Druck gerät und oft nur durch hohe Subventionen überlebt, gibt es auch außerhalb der Wallonie - wenn auch nicht immer so konzentriert wie in der belgischen Region. Und noch etwas verbindet die Wallonie mit anderen Teilen Europas. Auch hier profitierte zuletzt vor allem eine Partei des politischen Rands von den Problemen: Die linkspopulistische Arbeiterpartei hat ihre Wählerstimmen - zumindest in den Umfragen - seit 2014 verdreifacht.
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Martin Steinmüller, ORF.at, aus Brüssel