Unendliche Weiten, irdisch und himmlisch
Ein Wissenschaftlerdorf am Fuße des Kaukasus, ein Observatorium in 2.000 Meter Seehöhe, ein paar über tausend Jahre alte Kirchen: Das ist der Schauplatz einer so größenwahnsinnigen wie großartigen Ausstellung russischer und österreichischer Künstler.
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Das Kaukasusgebirge spannt sich zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Von Norden kommend liegt davor, noch auf europäischer Seite, Karatschai-Tscherkessien, seit 1991 eine Republik der Russischen Föderation. Wer dort hinfährt, stößt ans Gebirge oder ans Meer: Tscherkessien ist eine Sackgasse. Und ganz hinten in dieser Sackgasse liegt jene Region, in die von den Sowjetgranden ein Observatorium verpflanzt wurde, das von 1975 bis zu Beginn der 90er Jahre das größte Fernrohr der Welt besaß. Das Observatorium wird noch heute als solches betrieben.

Österreichisches Kulturforum Moskau
Das Observatorium mit der Installation von Timofey Radya: „Sie sind heller als wir“
Sackgasse mit Blick in die Unendlichkeit
Vom Ende der Welt, von einer Sackgasse aus, den Blick in die tiefsten Tiefen des Universums werfen; und: eine hochspezialisierte Wissenschaftscommunity mitten in einer Gegend, die man zwar nicht als gottverlassen bezeichnen kann, weil dort die vielleicht ältesten Kirchen Russlands stehen, in der es aber nichts gibt außer ein paar uralte Baudenkmäler, etwas deplatziert wirkende Protzbauten der Sowjetmoderne und verschlafene Dörfer und Städtchen am Fuße bewaldeter Hügel und verschneiter Berge. Es sind solche unwahrscheinliche Orte, die Simon Mraz faszinieren, an denen man der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gewahr wird.
Blick nach oben, Blick nach unten
Tscherkessien, ein Wissenschaftlerdorf am Fuße des Kaukasus-Gebirges, samt Kirchen aus dem 10. Jahrhundert; 1.000 Höhenmeter weiter oben: das Observatorium aus Sowjet-Zeiten.
Mraz ist ein mittlerweile quer durch internationale Feuilletons gefeierter Experte und Vernetzer der überaus spannenden Szene avantgardistischer russischer Künstler - und österreichischer Kulturattache in Moskau. Er hat Kunst auf einem Atomeisbrecher vor Murmansk inszeniert und in seiner Wohnung gegenüber dem Kreml bereits mehrfach kremlkritische, unangepasste und queere Werke gezeigt. Jetzt hat Mraz das Observatorium für sich entdeckt und stellt gemeinsam mit der tscherkessischen Kulturministerin und deren Schwester russische, österreichische und internationale Kunst aus - die extra für den Ort in Auftrag gegeben wurde und mit ihm korrespondieren soll.

Yuri Palmin
Svetlana Spirina: Seltsame Lebewesen auf dem Mars? Eine überlappende Fotoserie - die Künstlerin kullert vom Hang
Nerds und Modernismus
Besonders intensiv mit der speziellen Lage des Observatoriums auseinandergesetzt hat sich Yuri Palmin, einer der führenden Architekturfotografen Russlands. Als solcher war er auf Anhieb vom Wissenschaftlerdorf begeistert - und erstaunt darüber, wie wenig seinen Bewohnern bewusst war, dass sie hier inmitten von spannender, modernistischer Architektur der späten 70er Jahre leben. Also tat er das naheliegende, setzte die Gebäude des Campus und einige Baudenkmäler der Umgebung fotografisch in Szene.
Sprich: Palmin zeigt das Wissenschaftlerdorf im Wissenschaftlerdorf, das 1.000 Höhenmeter unter dem Observatorium liegt. Gezeigt werden die Fotos in Räumlichkeiten, die Kurator Mraz von der Atmosphäre her an eine schicke Berliner Galerie erinnert haben: ein leer stehendes Geschäftslokal in einem Wohntrakt. Und tatsächlich, der ramponierte Eindruck hat etwas von der Hinterhoflässigkeit eines Künstler-Squats - und zwar bevor es geräumt, verkauft, hergerichtet und dann wieder auf abgefuckt getrimmt wurde. Wer das Authentische sucht, wird hier fündig.

Yuri Palmin
Ein leeres Geschäftslokal als Galerie, in der gezeigt wird, was draußen los ist: very Berlin
Die Weltraumarchitektin
In Kommunikation mit der Welt des Weltraums tritt auch Eva Engelbert, die 2010 ihr Studium an der Universität für Angewandte Kunst in Wien beendet hat und seither in zahlreichen Ausstellungen vertreten ist. Ihr Werk ist eine Hommage an die Architektin Galina Balaschowa, die während der Sowjet-Ära an der Innenarchitektur von Raumschiffen und –stationen gearbeitet hat. Außerdem entwarf sie bunte Embleme für Kosmonauten.
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Die Faszination am Wissenschaftlerdorf
Kurator und Kulturattache Simon Mraz und die Künstlerin Eva Engelbert im Interview mit Carola Schneider für die ZIB. Tscherkessien, am Fuße des Kaukasus: ein inspirierender Ort.
Engelbert hat eine Installation geschaffen, die Klettbänder integriert, weil Balaschowa Klettbänder an den Wänden des Raunschiffe drapiert hatte, damit die Kosmonauten Gegenstände „ablegen“ konnten. Und sie entwarf ein Farbsystem, das ein Gefühl von oben und unten vermittelt, wo es mangels Schwerkraft kein oben und unten gab, wie Engelbert im Interview mit ORF-Korrespondentin Carola Schneider erzählt. Balaschowa war die einzige Frau in einem recht großen Team – und sie verdiente weniger als ihre männlichen Kollegen. Heute malt sie Aquarelle, unter anderem von den Space-Räumen, die sie früher entworfen hat. Engelbert integriert neben Klettbändern auch symbolische Embleme und Entwürfe der Innenarchitektur Balaschowas in ihre dezente, unaufdringliche Arbeit.

Yuri Palmin
Eva Engelbert: Hommage an eine Innenarchitektin des sowjetischen Weltraumprogramms
Verbannte Sternbilder
Andere Künstler lassen es vergleichsweise krachen. Alexandra Paperno hat Platten mit jenen Sternbildern aufgehängt, die 1922 von der International Astronomical Union verworfen wurden, obwohl sie in der Mythologie verankert waren. Spektakulär ist auch die Umgebung der großen Installation: eine Kirche aus dem 10. Jahrhundert.
Noch knalliger gibt es der Jekaterinburger Straßenkünstler Timofey Radya. Er hat direkt vor dem Observatorium auf einem Baukran eine Leuchtschrift angebracht mit dem Schriftzug: „Sie sind heller als wir.“ Gemeint sind die Sterne, die gleichermaßen die Kulisse für das Kunstwerk bilden – wenn das Wetter passt.

Yuri Palmin
Alexander Paperno zeigt Sternbilder, die aus der Astronomie verbannt wurden
Bildstöcke für die Wissenschaft als Religion
Die Moskauer Künstlerin Ira Korina wiederum baute Bildstöcke, insgesamt drei an der Zahl, und postierte diese an verschiedenen öffentlichen Plätzen des Wissenschaftlerdorfes, gegenüber der Schule, auf dem Vorplatz des Gästehauses und im Postamt. Bildstöcke sind uns aus dem christlichen Kulturkreis wohl bekannt, waren aber in der streng unreligiösen Sowjetunion verpönt.
Die hier am Observatorium lebende Gemeinschaft ist vor allem durch einen Glauben geprägt, sagt Kurator Mraz gegenüber ORF.at: nämlich jenen an die Wissenschaft, die hier betrieben wird. Dieser und der eiserne Wille, durch die Erforschung des Universums Antworten auf die grundlegenden Fragen unserer Existenz zu erhalten, schweiße die Menschen an diesem Ort zusammen und treibe sie an.

Yuri Palmin
Bildstöcke von Ira Korina für das Volk der Wissenschaftler
Füchse, Hasen, Astronomen
Heute ist es das Volk der Wissenschaftler, das in dem Dorf lebt, und das schon in dritter Generation. Aber sie sind nicht das erste Völkchen, das es an diesen abgeschiedenen Ort verschlagen hat. Im 7. Jahrhundert errichteten die Alanen eine Stadt, von der bis heute drei Kirchen aus dem 10. Jahrhundert erhalten werden konnten. Und die Bevölkerung der Gegend ist längst muslimisch geprägt – abgesehen von den areligiösen Fundamentalwissenschaftlern. Die Künstler schöpfen hier also aus einer denkbar reichen Quelle an Inspiration.
Wer zufällig in Tscherkessien vorbeikommt (auf der Durchfahrt kann es nicht sein), der sollte sich diese Schau nicht entgehen lassen. Aber Eile ist angesagt, lange sind die Werke nicht mehr zu sehen: Ab 5. November sagen sich am Fuße des Kaukasus wieder Füchse, Hasen und Astronomen gute Nacht.
Simon Hadler, ORF.at
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