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Studenten, Arbeiter, Bürgerliche

Vor 60 Jahren, am 23. Oktober 1956, hat der Ungarische Volksaufstand, gleichzeitig bürgerlich-demokratische Revolution und Freiheitskampf, seinen Lauf genommen. Studenten, Arbeiter, Bürgerliche und Intellektuelle bäumten sich gemeinsam gegen die Regierung der kommunistischen Partei und die sowjetische Besatzungsmacht auf – nach einem ungeplanten Beginn mit vorübergehendem Erfolg und blutigem Ausgang.

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Der Aufstand hatte freilich eine Vorgeschichte. Drei Jahre nach dem Tod des Diktators Josef Stalin fand im Februar 1956 in Moskau der erste Parteitag der KPdSU nach dem Tod des Diktators statt. Ein Wendepunkt: Denn dessen Nachfolger als Parteichef, Nikita Chruschtschow, prangerte die Verbrechen des Stalin-Regimes in einer fünfstündigen Geheimrede an und leitete so die Entstalinisierung ein. Die kommunistischen Satellitenstaaten schöpften Hoffnung und erhofften sich für ihre Zukunft mehr Freiheiten von Moskau.

Dennoch: Welche Ausmaße die Demonstration, die von Studenten der Technischen Universität Budapest im Oktober 1956 in der ungarischen Hauptstadt organisiert worden war, annehmen sollte, konnte trotz dieses Hintergrunds wohl kaum jemand erahnen. Bei der wohlgemerkt angemeldeten und von der kommunistischen Regierung genehmigten Veranstaltung wollten die jungen Menschen vordergründig ihre Solidarität mit dem polnischen Arbeiteraufstand im Juni 1956 bekunden.

14-Punkte-Resolution

Am Vorabend jedoch verabschiedeten die Studenten eine 14-Punkte-Resolution, die im Rahmen der Demonstration verlesen werden sollte: Dabei forderten sie unter anderem den Abzug der sowjetischen Truppen, Neuwahlen und eine neue Regierung unter Imre Nagy. Dieser hatte sowohl als Landwirtschaftsminister als auch als Ministerpräsident der kommunistischen Partei für Reformen in dem nach dem Zweiten Weltkrieg am wirtschaftlichen Abgrund taumelnden Land gesorgt.

TV-Hinweis

Im Rahmen eines ORF-Schwerpunkts ist in ORF2 am Mittwoch um 22.30 Uhr die Dokumentation „Flucht in die Freiheit – 60 Jahre Ungarn-Aufstand“ zu sehen.

Aufgrund innerparteilicher Querelen wurde er allerdings 1955 zunächst seiner Ämter enthoben und schließlich gänzlich aus der Partei ausgeschlossen. Nagy galt für viele Ungarn als Reformer und Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft, und auch mit den anderen Punkten der Liste der Studenten konnten sie sich identifizieren. Im Laufe des 23. Oktober, einem Dienstag, nahmen immer Menschen an dem Umzug teil.

Soldaten und Offiziere liefen über

Einige zogen bereits Richtung Parlament, die meisten jedoch marschierten Richtung Rundfunkgebäude, wo die Forderungen über den staatlichen Radiosender verkündet werden sollten. Stattdessen wurden aus dem Gebäude Schüsse abgeben, es gab die ersten Toten zu beklagen. Der kommunistische Parteichef Ernö Gerö hatte zwar versprochen, keine Waffen einzusetzen, aber letztlich selbst den Schießbefehl erteilt.

Menschen bei Demonstration

APA/AP/MTI

200.000 Menschen gingen am 23. Oktober 1956 auf die Straße

Dennoch liefen Soldaten und Offiziere zu den Aufständischen über und versorgten diese mit Gewehren. Es kam zu Straßenschlachten. Der Journalist Paul Lendvai, der damals im Zuge der Revolution über Prag und Warschau nach Wien floh, schrieb vor zehn Jahren zum 50. Jahrestag des Volksaufstands in der „Zeit“, dass auch die Parolen im Laufe des Tages immer nationalistischer und radikaler wurden: „Russen raus!“, „Bleibt nicht stehen auf halbem Weg, fegt den Stalinismus weg!“, „Bist du Ungar, bist du mit uns!“

Stalin-Denkmal zu Fall gebracht

In der Innenstadt wurde das symbolträchtige Stalin-Denkmal auf dem Heldenplatz zu Fall gebracht und vor das Parlamentsgebäude gezerrt. Einzig die Stiefel der Stalin-Statue blieben auf dem Sockel stehen - ein Motiv, das als Vorbild für ein Mahnmal im Szobor Park bei Budapest dienen sollte. Schließlich gab die Parteispitze dem Druck von der Straße nach und ernannte in der Nacht den einst geschassten Nagy erneut zum Ministerpräsidenten.

Nagy rief die Demonstranten via Radio dazu auf, die Waffen niederzulegen und nach Hause zu gehen - allerdings ohne Erfolg. In der Zwischenzeit beschloss die Sowjetunion, selbst einzugreifen und strategisch wichtige Punkte zu besetzen, die ungarische Bevölkerung widersetzte sich allerdings. In den darauffolgenden Tagen weiteten sich die Aufstände von Budapest auf das ganze Land aus, Arbeiter-, Revolutions- und Nationalräte konstituierten sich, ein überregionaler Generalstreik wurde ausgerufen.

Racheakte nach Schüssen vor Parlament

Vor dem Parlament versammelte sich am 25. Oktober eine unbewaffnete Menschenmenge und wiederholte die in den Tagen davor formulierten Forderungen. Die ungarischen Kommunisten reagierten darauf aggressiv: Sie eröffneten das Feuer auf ihr eigenes Volk. Am gleichen Tag wurde der von den Ungarn verabscheute Gerö abgesetzt und durch Janos Kadar ersetzt, der die Niederschlagung des Aufstands verkündete, denn die Führung der Partei habe „in vollem Einvernehmen dafür gestimmt, den bewaffneten Angriff auf die Staatsmacht mit allen nur möglichen Mitteln niederzuschlagen“.

Menschen bei Demonstration

APA/AP/MTI

Während des Aufstands wurde das Stalin-Denkmal zu Fall gebracht

Bis heute ist dem Portal Zeitgeschichte-online zufolge nicht klar, wer vor dem Parlament die Schüsse tatsächlich abgab. Ob die Rote Armee, der Staatssicherheitsdienst AVH oder andere dahintersteckten, darüber kann lediglich gemutmaßt werden. Fest steht, dass dabei über 100 Menschen ums Leben kamen. Das zog Racheakte nach sich, in deren Rahmen Blutbäder an Geheimpolizisten und Parteifunktionären angerichtet wurden.

Neutralität und Austritt aus Warschauer Pakt

Nagy löste den AVH auf, bildete eine Mehrparteienregierung und erkannte die Revolution offiziell an. Dem Volk versprach er die Wiedereinführung des Mehrparteiensystems, Pressefreiheit, den Abzug der Sowjettruppen und die Entmachtung der Geheimpolizei. Von Moskau wurden ihm auch diverse Freiheiten zugesichert - vorgeblich, wie Nagy bald erkennen musste.

All das bewegte Nagy zu einem historischen und, wie sich herausstellen sollte, folgenschweren Schritt: Vom Balkon des Parlaments verkündete er am 1. November 1956 die Neutralität Ungarns und den Austritt aus dem Warschauer Pakt. Zudem suchte er bei den USA und bei der UNO um Hilfe an. Über Radio Free Europe war den Aufständischen militärische Unterstützung vom Westen versprochen worden. Diese traf aber nie ein.

Keine Hilfe von USA beabsichtigt

Mehr noch: Laut US-amerikanischen Regierungsdokumenten war das auch zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt. US-Präsident Dwight D. Eisenhower befand sich mitten im Wahlkampf und wollte es sich ohnehin nicht mit den Sowjets verscherzen. Verbale und moralische Unterstützung war den Ungarn gewiss, was zumindest ein Ansporn zu einer Verlängerung der Kämpfe wurde.

Imre Nagy

APA/AFP

Imre Nagy wurde zur Schlüsselfigur des Aufstands

Auch die restlichen Westmächte hatten zu diesem Zeitpunkt an anderen Fronten zu tun. Briten und Franzosen waren in die Sues-Krise involviert und konnten sich ohnehin nicht auf eine Linie mit den USA einigen, schon gar nicht bei einem etwaigen Vorgehen bezüglich des Ungarn-Aufstands. Eine militärischen Intervention galt es vor allem im Hinblick auf die Sowjetunion unbedingt zu vermeiden.

Sowjetische Panzer, Flugzeuge, Artillerie

Die Sowjets ihrerseits wussten von der westlichen Lage Bescheid und nutzten diese aus. In den frühen Morgenstunden des 4. November marschierten Truppen der Roten Armee - 6.000 Panzer, Flugzeuge, Artillerie - in Budapest ein, begannen, den Volksaufstand niederzuschlagen, und besetzten das ganze Land. Vor allem in der ungarischen Hauptstadt tobten heftige Kämpfe.

In Summe verloren im Laufe der Revolution 25.000 Menschen ihr Leben, 150.000 wurden verletzt. Drei Tage nach dem Einmarsch floh Nagy in die jugoslawische Botschaft, Mitte November mussten die Ungarn das Scheitern der eigentlich zufällig zustande gekommenen Revolution einräumen. Während sich an einzelnen Orten, etwa im Gebirge, die Kämpfe bis Anfang 1957 hinzogen, setzte eine Massenflucht nach Österreich ein - von 180.000 Geflüchteten blieben laut UNHCR lediglich 18.000 dauerhaft.

230 vollstreckte Todesurteile

Nagy wurde am 22. November festgenommen, und obwohl ihm ursprünglich Straffreiheit zugesprochen wurde, wurde er nach einem Schauprozess 1958 hingerichtet. Die Folge der Revolution, von der bis 1989 nur als „Konterrevolution“ gesprochen werden durfte, waren Gerichtsverfahren gegen 35.000 Personen, außerdem 230 vollstreckte Todesurteile, 26.000 Gefangene und 100.000 Internierte.

Der moskautreue Kadar wurde Ministerpräsident und kommunistischer Parteichef. Letzteres sollte er bis 1988 bleiben. Gesprochen werden durfte über die Ereignisse im Herbst 1956 bis 1989 nicht. Erst unter dem damaligen ungarischen Staatsminister und Chefreformer Imre Pozsgay war auch offiziell von einem Aufstand und nicht von einer Konterrevolution die Rede.

Vom Volksverräter zum Volkshelden

Nagy wurde offiziell rehabilitiert, exhumiert und am 16. Juni 1989 kurz vor dem Tod seines Gegenspieles Kadar in einem Ehrengrab feierlich neu bestattet - und vom Volksverräter zum Volkshelden. Die Umbettung von Nagys Leichnam von einem Massen- in ein Ehrengrab war schon lange zuvor gefordert worden, unter anderem 1988 vom Budapester Studentenführer. Der Name des Mannes, der fürderhin mit seiner Partei FIDESZ und als ungarischer Ministerpräsident nationalkonservative Positionen vertreten sollte: Viktor Orban.

Christian Kisler, ORF.at

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