Das Menschliche „ist verloren gegangen“
Österreich gilt im europaweiten Vergleich als Vorbild in Sachen Jugendarbeitslosigkeit. Die Zahlen täuschen aber nicht darüber hinweg, dass heute 20 Prozent mehr junge Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind als etwa noch im Jahr 2010.
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In Wien haben sie eine eigene Anlaufstelle: Das AMS Jugendliche ist das einzige österreichweit, das Personen zwischen 14 und 21 in einer eigenen Geschäftsstelle bei der Arbeitssuche betreut. „Bunt gemischt“ sei das Publikum, sagt Gerda Challupner, die Leiterin des AMS Jugendliche, im Gespräch mit ORF.at: Schulabbrecher, Lehrstellensuchende, Schüler, die noch nicht so recht wissen, was sie machen wollen, Jugendliche die mit der Schule fertig sind und noch keinen Job haben.
„Ja, sie wollen arbeiten“
Wenn Challupner über sie spricht, spricht sie nicht in Zahlen, sondern erzählt von Beispielen und Einzelschicksalen. Die ausgebildete Sozialarbeiterin hat vor 36 Jahren „am Arbeitsamt“ begonnen. Eins ist ihr ein großes Anliegen: die großen Vorurteile gegenüber den Jugendlichen zu bekämpfen. „Ja, sie wollen arbeiten. Und die Jugendlichen sind nicht schlecht. Und sie sind nicht schlechter als früher. Es hat immer Jugendliche gegeben, die waren schlimm, und das ist jetzt genauso. Wir haben Jugendliche, wo Du Dir denkst: supertoll. Und wir haben welche, da ärgerst Du Dich grün und blau. Das habe ich am 1.1.1980 auch schon gehabt.“

ORF.at/Petra Fleck
Challupner arbeitete vor ihrer AMS-Tätigkeit als diplomierte Sozialarbeiterin. Voraussetzung für ihren Beruf: „Die Jugend gerne haben“.
Was sich sehr wohl verändert hat, ist der große Druck, unter dem junge Menschen stehen. „Ein 15-Jähriger sollte schon genau wissen, was macht er die nächsten zehn Jahre, sollte persönlichkeitsmäßig schon total fertig sein, verlässlich“, so Challupner. „Und wenn man nicht so funktioniert, dann ist man automatisch ein Loser. Man ist viel früher in ein Eck gestellt.“ Die Toleranz sei enden wollend, der „menschliche Aspekt ein bisschen verloren gegangen“. Gleichzeitig erlaube der Arbeitsmarkt immer weniger Fehler - „wenn sich jemand nur ein bisschen was leistet, kann’s Dir passieren, dass Du wieder relativ rasch da bist (beim AMS, Anm.).“
Rechnen, lesen, schreiben, nachreifen
Dabei sind viele Jugendliche nach der Schule einfach noch nicht bereit für den Arbeitsmarkt. „Da gibt’s natürlich Jugendliche, die noch Vorbereitung brauchen, viel Vorbereitung auf den Einstieg in den ersten Lehrstellen- oder Arbeitsmarkt“, so Challupner. Die würden auf Schulung geschickt, „lesen, schreiben, rechnen“ - „die Grundsachen, die man eigentlich können sollte nach fünf Jahren Schule“.
Andere seien persönlich oder belastungsmäßig noch nicht so weit, für diese gebe es dann eine Produktionsschule. Was eigentlich ein „blöder Name“ sei, findet Challupner. Denn das sei keine klassische Schule, dort gehe es ums Nachreifen im persönlichen Bereich und auch um das Wiederholen von Schulstoff und Berufsorientierung. „Das ist bei uns sehr, sehr viel“ - wahrscheinlich auch mehr, als es in den Bundesländern der Fall ist, glaubt Challupner.
„Dann sind sie wirklich Raketen“
Der Großteil der in dieser AMS-Stelle betreuten Jugendlichen habe migrantischen Hintergrund, etwa 65 bis 67 Prozent, so die Leiterin, quer durch die ganzen Altersklassen. Die meisten von ihnen sind österreichische Staatsbürger, also bereits zweite oder dritte Generation. Auch einen leichten männlichen Überhang gibt es.
Stärker ausschlaggebend als diese Merkmale sei aber etwas anderes, so Challupner: „Die meiste Unterstützung brauchen natürlich jene, die eher aus einem bildungsfernen Elternhaus kommen.“ Das heiße aber nicht, dass die „dumm sind“. „Man muss sie nur ein bisschen mehr noch einmal fördern und unterstützen, und dann sind die wirklich Raketen.“
„Wenn Eltern mitkommen, freut man sich richtig“
Challupner beobachtet in ihrer langjährigen Tätigkeit, dass sich auch die Situation der Eltern verändert hat. Sosehr das viele auch wollten, viele könnten ihre Kinder in puncto Bildung nicht ausreichend unterstützen. „Die sind selber teilweise so belastet, dass sie die Kinder nicht unterstützen können“, wirtschaftlich, zeitlich und emotional - vor allem was Alleinerzieher betreffe. Und oft sei einfach die Vorbildung nicht da.
Das zeige sich auch bei den Beratungsgesprächen. Zu Beginn ihrer Tätigkeit hätten viele Eltern ihre Kinder beim AMS-Besuch begleitet. Das sei immer weniger geworden, bald sei nur noch ein Elternteil mitgekommen. „Und dann haben die Eltern immer mehr ausgelassen. Und wenn jetzt Eltern mitkommen, also da freut man sich schon richtig.“ Der wirtschaftliche Druck sowohl auf Eltern als auch auf die Jugendlichen sei so viel größer geworden. Eine große Chance für mehr Chancengleichheit sieht die AMS-Leiterin in der Ganztagsschule. Hoffnung setzt Challupner auch in die Ausbildungspflicht - wenn sie nicht „verbürokratisiert“ werde.
Verborgene Probleme aufspüren
Prinzipiell gehe es bei der AMS-Beratung darum, erst einmal abzuklären, was der Jugendliche möchte und was er noch braucht, um dorthin zu kommen. Neben den offensichtlichen Dingen wie Qualifikationen und Bildung sei es oft aber noch wichtiger, verborgene Probleme aufzuspüren. „Die Berater haben 15 Minuten für so ein Gespräch“, so Challupner. Das reiche oft nicht aus. Wenn einem Berater das „gute G’spür“ sagt, dass „irgendwas nicht passt“, dann gebe es auch weitere Beratungsstellen, auch besondere für Mädchen, in denen es viel intensivere Gespräche gibt und auch das Umfeld betrachtet wird.
Zu viel Verantwortung für einen jungen Menschen
Challupner erzählt von einem Beispiel, in dem ein Mädchen in der Schule „nicht so schlecht war“ und einen bestimmten Lehrberuf ergreifen wollte. Ihre AMS-Beraterin wunderte sich nach einem Dreivierteljahr, dass das Mädchen trotz Zuverlässigkeit keine Lehrstelle fand, und schickte sie zur Jugendberatungsstelle. „Nach zwei bis drei Gesprächen sind die draufgekommen, das arme Dirndl hat eine krebskranke Mutter zu Hause, die sie pflegen muss.“ Das Mädchen war schlicht überfordert. Über Unterstützungsmöglichkeiten und Förderungen, die ihrer Mutter zustünden, wusste sie nicht Bescheid. Die Beratungsstelle half ihr, das zu klären, „und dann war’s leichter“, so Challupner.
Sie wundere sich selbst, was so mancher Jugendliche durchmache. „Wenn ich mir das Schicksal von so manchem ansehe, frage ich mich, warum der nicht schon längst durchgedreht ist.“ Das müsse man auch immer bedenken, bevor man einen Jugendlichen als „Obizahrer“ abstemple. „Wie ich angefangen habe zu arbeiten, war das nicht so krass. Die Bewertung der Jugendlichen durch die Gesellschaft ist im Laufe der Jahre eine immer negativere geworden. Mich wunderts nicht, dass manche Jugendliche sagen, ich scheiß auf die Gesellschaft.“
In der Statistik unsichtbar
Es gibt aber auch Jugendliche, die weder einen Job haben noch in Ausbildung sind noch vom AMS betreut werden. „Die scheinen in keinem System auf.“ Im Fachjargon werden sie „arbeitsmarktfern“ genannt oder „NEET“ (Not in Education, Employment or Training). „Das ist eine, glaube ich, nicht ganz so kleine, vernachlässigbare Gruppe“, so Challupner. Sie schätzt die Zahl in Wien auf deutlich mehr als 1.000 wenn nicht mehrere 1.000 Personen, „also eine nicht zu vernachlässigende Zahl“. Diese schienen auch in der Arbeitslosenstatistik nicht auf, von der nur diejenigen berücksichtigt werden, die zum AMS kommen.
Zu erreichen versucht man die „arbeitsfernen“ Jugendlichen über die Zusammenarbeit mit Street-Workern und Sozialarbeitern. Über sie sollen sie an ein niederschwelliges Angebot als Vorbereitung für den Arbeitsmarkt herangeführt werden, so Challupner. Also etwa einmal tageweises Arbeiten in Betrieben und dann in speziellen Werkstätten, wo „noch Rücksicht genommen wird“. „Ich muss in Wien sehr viele Jugendliche niederschwellig hereinholen“, damit sie überhaupt auf dem Arbeitsmarkt andocken könnten, so die AMS-Leiterin.
„Du darfst sie nicht verlieren“
Im Unterschied zum herkömmlichen AMS haben ihre Kunden meist keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. „Das heißt, die kommen freiwillig her. Die kommen und sagen, ich möchte eine Arbeit oder eine Lehrstelle.“ Das sei eben nicht immer sofort realisierbar, was manche Jugendliche frustriere. Viele wüssten zwar noch nicht, was sie wollen, „aber sie wollen“. Und wenn man „nur logisch nachdenkt“, lohne sich „alles, was ich da reinstecke“, so Challupner. Wenn man einen Jugendlichen mit 17 aufgebe und der spätestens mit 24 ein Dauer-Mindestsicherungsbezieher sei, „dann kostet das die Öffentlichkeit unheimlich viel Geld“. Allein schon deswegen „darfst du sie nicht verlieren“.
Petra Fleck, ORF.at
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