Themenüberblick

Eine „verlorene Generation“ verhindern

Sicherheit, Flüchtlinge und natürlich der „Brexit“: Diese Themen dominieren seit Monaten die EU-Politik und die Berichterstattung darüber. Es sind aber nicht die einzigen Fronten. Eine Aufgabe begleitet die EU schon besonders lange: die Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen.

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„Ich kann und werde nicht akzeptieren, dass Europa der Kontinent der Jugendarbeitslosigkeit ist und bleibt.“ Der Satz stammt von niemand anderem als EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker. Er ist Teil seiner programmatischen Rede zur Lage der Union und lässt erahnen: Die Jugendarbeitslosigkeit bereitet der EU Kopfzerbrechen.

Warum das so ist, zeigen bereits die nackten Zahlen: Fast 19 Prozent betrug im Juni die EU-Arbeitslosenquote unter jungen Menschen bis 25 Jahre. Der Wert ist zwar etwas niedriger als im Jahr zuvor, aber immer noch hoch - auch in absoluten Zahlen: „6,6 Millionen junge Menschen sind weder in einem Job noch in einer Ausbildung“, sagte die zuständige EU-Kommissarin Marianne Thyssen Mitte September in Brüssel. Das entspricht immerhin der Einwohnerzahl eines mittelgroßen europäischen Landes.

EU-Maßnahme auf den Zahn gefühlt

Arbeitsmarktpolitik ist in der EU eigentlich Aufgabe der Mitgliedsstaaten. Dennoch brachte die Kommission im Laufe der Jahre eine Vielzahl an Förderprogrammen für junge Menschen auf den Weg. Eine der beiden jüngsten Maßnahmen ist die Jugendgarantie. Sie soll sicherstellen, dass jeder Jugendliche unter 25 Jahren innerhalb von vier Monaten einen Job, ein Praktikum oder einen Ausbildungsplatz bekommt. Bis zu zehn Milliarden Euro pro Jahr stellt dafür der Europäische Sozialfonds (ESF) für entsprechende Programme in den Mitgliedsstaaten zur Verfügung.

Eine eben publizierte Studie des Thinktanks European Policy Center (EPC) untersuchte, wie gut das in den ersten drei Jahren funktionierte. Die Studienautoren analysierten dafür Projekte in fünf europäischen Ländern - und kamen zu dem Ergebnis: Ja, die EU-Maßnahme habe die meisten EU-Staaten zu wichtigen Reformen bewegt; und habe außerdem dazu geführt, dass dem Thema Jugendarbeitslosigkeit mehr Beachtung geschenkt wird. Dennoch „ist aber nicht zu leugnen, dass es noch immer viele Schwachstellen gibt“, so die Autoren.

Fehlende Koordination und Innovation

Da sei zum einen die „fehlende Kontinuität“, so die Autoren. Viele Maßnahmen würden neu gegründet, andere wieder verworfen, und manchen Ländern falle es schwer, sich einen Gesamtüberblick über alle Initiativen zu verschaffen. Mit anderen Worten: Die rechte Hand weiß manchmal nicht, was die linke tut.

Zugleich setzen die Staaten laut der Studie zumeist auf Konzepte, die sie bereits kennen, und öffnen sich kaum für neue Ansätze. In Ländern, die bereits zuvor erfolgreiche Programme initiiert hätten, sei das durchaus sinnvoll. Staaten mit einer weniger erfolgreichen Geschichte liefen jedoch Gefahr, ihre Fehler zu wiederholen.

Einseitige Partnerschaften

Das spielt auch eine Rolle, wenn es um mögliche Partnerschaften geht. Viele nationale und regionale Programme bemühten sich vor allem um die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft, so die Studienautoren. Auf andere Mitspieler wie etwa NGOs und besonders Jugendorganisationen werde jedoch oftmals vergessen.

Diese Kritik teilen die Jugendorganisationen. Während manche Länder wie Finnland Jugendorganisationen ganz bewusst integrierten, blieben sie in anderen völlig unberücksichtigt, sagt Marianne Georgalis, Arbeitsmarktexpertin beim Europäischen Jugendforum (EJF), dem Dachverband Europas. „Dabei geht es nicht nur um Symbolik. Wir sehen, dass die Einbindung von Jugendorganisationen die Ergebnisse positiv beeinflusst.“

Schwierige Fälle bleiben außen vor

Besonders in einem Bereich scheint die Zusammenarbeit mit Jugendorganisationen einen großen Unterschied zu machen: Wenn es darum geht, die anzusprechen, die am schwierigsten zu erreichen sind. Also eben nicht Jugendliche, die ohnehin bereits bei Arbeitsagenturen gemeldet sind oder eine gute Ausbildung absolviert haben; sondern junge Migranten, Schulabbrecher, Kinder aus zerrütteten Familien.

Ein Teenager beim Vorstellungsgespräch

Getty Images/Steve Debenport

Viele Beschäftigungsprogramme suchen schnelle Erfolge

Viele Staaten, so hält es auch die EPC-Studie fest, konzentrierten sich in ihren Programmen aber vor allem auf die leicht zu erreichenden Gruppen – ganz einfach weil hier schnellere Erfolge winkten. Jene, „die es am nötigsten brauchen“, erreiche man damit aber gerade nicht, sagt Georgalis.

Ein Beispiel dafür findet sich gar nicht weit von Österreich entfernt. In der Ostslowakei sei die Arbeitslosigkeit unter jungen Roma besonders hoch, sagt Michal Palenik, Direktor des Arbeitsmarktinstituts der slowakischen Akademie der Wissenschaften. Die Bildungs- und Arbeitsprogramme nehmen darauf aber keine Rücksicht. Für die oftmals von der restlichen Bevölkerung getrennt lebenden Roma-Familien, gebe es so gut wie keine speziellen Angebote, so Palenik.

„Wir müssen einen größeren Kuchen backen“

Die Slowakei ist eines der EU-Länder mit einer überdurchschnittlich hohen Jugendarbeitslosigkeitsquote. Noch stärker betroffen sind aber seit Jahren die Länder Südeuropas - also jene Staaten, in denen die Wirtschaftskrise besonders tiefe Spuren hinterlassen hat. Ein Zusammenhang, der kaum verwundert: Wird es wirtschaftlich eng, setzen Unternehmen den Sparstift an. Als Erstes bedeutet das zumeist ein Aus der Neueinstellungen. Das schlägt dann direkt auf junge Menschen durch, die erst auf den Arbeitsmarkt einsteigen.

„Die beste Vorsorge ist eine starke und gesunde Wirtschaft“, sagt deshalb Ton Wilthagen. Er ist Professur mit Schwerpunkt Arbeitsmarkt an der niederländischen Tilburg-Universität. Und wie viele seiner Kollegen wird er nicht müde zu betonen, dass Jugendarbeitslosigkeit eben auch durch Wachstum bekämpft wird. „Wir müssen einen größeren Kuchen backen", sagt er. Es brauche mehr und qualitativ höherwertige Jobs.

EU steckt 600 Milliarden in die Wirtschaft

Allein, wie man vor allem in den südeuropäischen Ländern die Wirtschaft stärken und mehr Arbeitsplätze schaffen kann, darüber herrscht innerhalb der Union keine Einigkeit: Für linke Politiker wie Italiens Premierminister Matteo Renzi und Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras steht der strenge Sparkurs der Union einem Jobwachstum im Weg. Sie fordern - wie zuletzt auch Kanzler Christian Kern (SPÖ) - ein Ende der europäischen Austeritätspolitik.

Europas konservative Regierungen halten hingegen ebenso wie die EU-Kommission weiterhin am Spardiktat für die Mitgliedsstaaten fest. Allerdings setzt die Kommission zunehmend auf Investitionspakete aus Brüssel. 315 Milliarden Euro sollten ursprünglich im Zuge der aktuellen EU-Investitionsoffensive, auch Juncker-Plan genannt, bis 2017 in die Wirtschaft gesteckt werden. In seiner Rede zur Lage der Nation verkündete Juncker nun, diese Summe bis 2022 zu verdoppeln - was im Übrigen auch eine Forderung der europäischen Sozialdemokraten war.

Jugendvertreter kritisieren „Kürzung“

Freilich, nicht überall ist das Füllhorn der Kommission gleich gut bestückt. Für die zweite aktuelle EU-Maßnahme gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die Jugendbeschäftigungsgarantie, reservierte die Kommission insgesamt 6,4 Milliarden Euro. Davon sollen Regionen profitieren, in denen die Jugendarbeitslosigkeit über 25 Prozent liegt. Budgetiert ist das Geld eigentlich für die Jahre 2014 bis 2020. Wegen der „Dringlichkeit des Problems“, einigten sich Kommission, Rat und Parlament jedoch darauf, die ganze Summe bereits in den ersten beiden Jahren auszuschütten. Was zur Folge hat, dass das Geld nun aufgebraucht ist.

Politikerin Marianne Thyssen

ORF.at/Martin Steinmüller

Kommissarin Thyssen will die Länder in die Pflicht nehmen.

Zwar kündigte EU-Kommissarin Thyssen erst vergangene Woche für die kommenden vier Jahre noch einmal zwei Milliarden Euro. Im Vergleich zu den 6,4 Milliarden der Vorjahre ist das freilich nur ein Bruchteil. Das EJF spricht von einer „effektiven Kürzung“ der Mittel. Georgalis verweist gegenüber ORF.at auf eine Studie, nach der man eigentlich 20,1 Milliarden Euro pro Jahr brauche, um die Beschäftigungsinitiative wirklich umzusetzen. Dass die EU solche Summen zur Verfügung stelle, sei „natürlich unrealistisch“, sagt sie. Aber die Zahl zeige, wie wichtig es wäre, zumindest den bisherigen Status zu erhalten.

Erst der Anfang

Mehr Mittel werde es von der Kommission aber nicht geben, richtete Thyssen den Jugendvertretern bereits aus. „Wenn ihr mehr Geld braucht, müsst ihr die Mitgliedsstaaten an Bord holen“, so die Kommissarin. Ganz Ähnliches kam auch von Juncker, als er in seiner Rede sagte, die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit „ist natürlich in erster Linie Aufgabe der nationalen Regierungen“.

Die EU wolle eine „verlorene Generation“ verhindern, sagte Thyssen vergangenes Jahr in einer Rede vor Arbeitsmarktexperten. Dass das nur funktionieren kann, wenn tatsächlich alle Beteiligten zusammenarbeiten, klingt wie eine Binsenweisheit - ist in einem komplexen Gebilde wie der EU jedoch nicht immer selbstverständlich. Mit den jüngsten Programmen wie der Jugendgarantie sei die EU einen Schritt in die richtige Richtung gegangen, sagen Jugendvertreter und Experten - wenn auch immer mit dem Zusatz: Es könne erst der Anfang gewesen sein.

Martin Steinmüller, ORF.at, aus Brüssel

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