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Was Verbrecher zu Verbrechern macht

Finstere Machenschaften bestimmen das Treiben in „Pregau“ - und finstere Areale gibt es in der Seele jedes Menschen, wie der Gerichtspsychiater Reinhard Haller im Interview mit ORF.at sagt. Der Narzissmus greife heute um sich. Und der Schlächter von „Pregau“ ist eigentlich ein ganz „Normaler“.

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ORF.at: Wie muss jemand beschaffen sein, um anfälliger zu sein als andere, im Affekt über die Stränge zu schlagen. Was macht da die Psyche, die Seele eines Verbrechers aus, was unterscheidet ihn von jemandem, dem das dann nicht passiert, der sich kontrollieren kann?

Haller: Diese berühmte Frage: „Kann jeder zum Mörder werden?“ ist auf diese Art meines Erachtens zu verneinen, weil Mord ein strafrechtlicher Begriff ist, Mord setzt immer einen bösen Willen, einen Plan voraus. Aber es kann sehr wohl jeder zum Töter werden, also es kann jeder unter bestimmten Bedingungen ein Tötungsdelikt begehen. Nehmen wir die Situation einer Notwehr, wo auch ein Mensch, der durch und durch anständig und kontrolliert ist, möglicherweise einen anderen töten muss, oder wenn jemand vom Sturm der Affekte hinweggespült wird oder wenn jemand unter Substanzeinfluss, Crystal Meth zum Beispiel, etwas, was eine große Rolle spielt, Taten begeht, die er nicht begreifen kann, dass er sie machen hat können.

Gerichtspsychiater Reinhard Haller

ORF.at/Christian Öser

Haller im Gespräch mit ORF.at

Ansonsten gibt es natürlich gewisse Risikofaktoren für kriminelles Verhalten, zum Beispiel für Affektdelikte, die möglicherweise in den Genen liegen. Das wissen wir heute noch nicht so genau. Es hat in den 1960er Jahren die Meinung gegeben, dass es das berühmte Verbrecherchromosom und das Mördergen gibt. Das hat sich dann aber nicht bewahrheitet. Man nimmt dann aber schon an, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, zum Beispiel emotionale Instabilität, Impulsivität, unkontrollierte Aggressivität, dass das auch genetisch determiniert ist.

Des Weiteren spielt die frühkindliche Entwicklung eine ganz große Rolle, die ersten Lebensjahre, wobei es zwei Risikofaktoren gibt. Das eine ist, wenn der Mensch keine Zuwendung, keine Liebe bekommt, wenn er diesen Hunger nach der emotionalen Muttermilch ein Leben lang mit sich herumträgt und dann immer wieder Situationen kommen, etwa beim ersten Verliebtsein oder bei partnerschaftlichen Streitigkeiten, wo er von dieser Urangst wieder erfasst wird: „Mich mag niemand. Ich werde zu wenig geliebt.“ Das ist ein großer Risikofaktor.

Umgekehrt können wir sagen, wenn ein Mensch zu sehr verwöhnt wird, wenn man ihn vom ersten Tag an nur als Star betrachtet, wenn die Eltern alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, wenn das Kind nicht lernt, auf die Schnauze zu fallen und wieder aufzustehen, hat das natürlich eine extrem dünne Haut, ist narzisstisch kränkbar und wird dann natürlich auch viel eher in bestimmten Situationen ausrasten, ausflippen, als ein Mensch, der hier vielleicht etwas realitätsangepasster, etwas stärker ist.

ORF.at: Der Narzissmus kommt in ihren Gutachten immer wieder vor. Was unterscheidet das sogenannte „g’sunde Selbstbewusstsein“ vom krankhaften Narzissmus?

Haller: Narzissmus ist von sich aus nicht schlecht. Es kommt auf das richtige Maß an. Wenn wir keine Narzissten sind, heißt das mit anderen Worten, wir haben wenig Selbstvertrauen, wir können uns nicht durchsetzen, wir sind extrem kränkbar, wir sind mit einem Wort neurotisch. Wenn wir zu viel davon haben, dann handelt es sich meist um den bösartigen, oder auch schmarotzerischen oder den amourösen Narzissmus, der auf Kosten der anderen ausgelebt wird. Narzissmus spielt tatsächlich im Verbrechen eine außerordentlich wichtige Rolle - aber nicht nur dort.

Wir leben seit Beginn der digitalen Wende, also um die Jahrtausendwende herum, im Zeitalter des Narzissmus. Der Narzissmus, der früher nur den Mächtigen und den Reichen vorbehalten war, ist jetzt plötzlich demokratisiert worden - und das ist gut so. Das ist im Prinzip eine tolle Entwicklung, dass jeder Mensch die Fortschritte der Technik genießen kann, dass jeder Mensch in die Lüfte fliegt, dass jeder Mensch sich mit der Welt verbindet, ein Stück weit Herr des Netzes ist, das ist nicht schlecht. Schwierig wird es, wenn es zu viel des Guten wird. Wenn man nur noch auf sich selbst zentriert ist, wie wir es jetzt schon in verschiedenen Bereichen sehen.

Mit dem Selfie ist das Ich das mit hoher Zehnerpotenz am meisten fotografierte Objekt der Welt. Nicht das Matterhorn, der Taj Mahal oder der Zuckerhut, sondern das „Ich, Ich, Ich“. Und wir leben in einer Gesellschaft, die nach dem Prinzip funktioniert: ich, icher, am ichsten. Die Ego-AG steht im Mittelpunkt und ist über alles zu stellen. Dafür gibt es viele Hinweise, etwa wie wir mit unserer Umwelt umgehen, ganz narzisstisch, nur zu unserem Vorteil auf Kosten zukünftiger Generationen.

Gerichtspsychiater Reinhard Haller

ORF.at/Christian Öser

Die Motive eines Täters zu erklären bedeutet nicht, ihn zu entschuldigen

Ich denke an die Bankenkrisen, wo man ja auch Scheinwerte aufgebaut hat, wie beim Narzissmus: Es war nichts dahinter. Ich denke auch an die Entwicklung im Drogensektor, wo man heute vornehmlich narzisstische Drogen verwendet, nicht mehr die entspannenden und lieblichen wie Cannabis oder die zudeckenden wie Heroin, sondern die narzisstischen: Ich werde von der ganzen Welt geliebt, und ich liebe die ganze Welt.

ORF.at: Die Hauptfigur von „Pregau“, der Polizist, scheint sehr gekränkt zu sein. Seine Frau schläft nicht mehr mit ihm. Ist das auch so ein Fall, wo man sagt, Gekränktheit trifft auf eine narzisstische Persönlichkeit, oder was ist da passiert?

Haller: In diesem Film werden einerseits die Charaktere des Verbrechens in einer scheinbar heilen, gutbürgerlichen Welt, aufgezeigt. Was aber noch viel bedeutsamer ist, das sind die Entwicklungen, die vor sich gehen. Wie also jemand vom Opfer zum Täter oder umgekehrt vom Täter zum Opfer wird. Und hier spielen zwischenmenschliche Übertragungen, Kränkungen eine ganz entscheidende Rolle.

Das Wesen der Kränkung liegt darin, dass es zu einem Liebesentzug kommt oder zu Angst vor Liebesverlust, die sich dann nicht sofort äußert in einem Anfall von Wut oder von Raserei, sondern es ist etwas, das einen Prozess auslöst, einen still vor sich hin eiternden, mit einer entzündlichen Erkrankung vergleichbaren Krankheitsablauf, bei dem es oft Monate und Jahre geht, bis es wirklich zum Durchbruch kommt, dann meistens in Form eines heftigen Verbrechens.

In der Hauptfigur dieses Filmes wird die Entwicklung nachgezeichnet, wie ein eigentlich gesunder, man möchte eigentlich sagen, der einzig Gesunde im ganzen Film, durch verhängnisvolle Abläufe, die an eine griechische Tragödie erinnern, und wo Kränkungen eine ganz zentrale Rolle spielen, plötzlich in eine ganz andere Rolle hineinkommt und am Schluss sich wirklich, wie wir das bei Gekränkten oft erleben können, in eine narzisstische Größenposition hineinkommt, in eine Art narzisstischen Größenwahn, wo er dann in einer Endzeitstimmung letztlich diesen Rausch auslebt.

ORF.at: Wenn man sich den Polizisten Hannes anschaut: Gibt es Verbrechen, die nicht nur erklär-, sondern auch entschuldbar sind durch die Umstände?

Haller: Die Aufgabe des Psychologen ist es, die psychologischen Abläufe und die Motive einfach wertfrei darzustellen. Das wird oft in der Öffentlichkeit verwechselt, indem man sagt: „Das wird ja alles entschuldigt.“ Wenn ich jetzt beispielsweise über die Psyche der Schulamokläufer gesprochen habe, dann heißt das ja nicht, dass ich das gutheiße oder entschuldige. Wie man damit umgeht, ob man sagt, man kann es gut verstehen, und er hat ein geringeres Maß an Schuld, weil er eben ausgegrenzt worden ist, weil man ihn verletzt hat, weil ihn seine Frau fallen hat lassen - das spielt sich auf einer anderen Ebene.

ORF.at: Es muss doch ganz anders sein, für ein fiktionales Projekt zu arbeiten, als wenn man für einen Prozess ein Gutachten erstellt. Kann man da eher mit Freude dabei sein? Und wie sind Sie da vorgegangen?

Haller: Das war eigentlich kein großer Unterschied. In meinem Beruf werde ich natürlich auf der einen Seite mit Menschen konfrontiert, die man bereits als Verbrecher identifiziert hat, mit denen ich sprechen kann, wo ich also einen Gegenstand der Untersuchung habe. Im Profiling geht es hingegen darum, aus der Sprache des Verbrechens, aus den Spuren, die man hat, auf die Handlungsweise und auch auf die Denkarten des noch nicht bekannten Täters zurückzuschließen. Das sind zwei unterschiedliche Zugangsformen.

Wenn ich gebeten werde, ein Verbrechen zu analysieren, bei dem ich selbst keine Untersuchungen durchführen konnte, weil der Täter sich das Leben genommen hat oder weil ich nicht involviert war, wird häufig vorgeworfen, man stellt Ferndiagnosen. Das ist meines Erachtens ein falscher Vorwurf. Weil man erstellt erstens keine Diagnosen, sondern macht Analysen, wie man sie auf technischer Weise auch machen kann, etwa bei einem Flugzeugabsturz. Da war ich ja selbst auch nicht dabei, aber ich kann sagen: Die oder die Möglichkeit ist gegeben.

Gerichtspsychiater Reinhard Haller

ORF.at/Christian Öser

Haller sagt, wir schauen Krimis, um „in den Spiegel der eigenen Abgründe zu blicken“

Genau dieses Vorgehen war auch beim Film erforderlich. Man bekommt eine Geschichte präsentiert, erzählt, und soll dann rückfolgern: Was geht möglicherweise vor in den einzelnen Menschen? Welche psychischen Abläufe sind hier, welche Kränkungsreaktionen, welche Eifersüchteleien, welche narzisstischen Entwicklungen. Und, was man nicht vergessen darf: Welche gruppendynamischen Effekte spielen hier eine Rolle? Denn gerade der Einfluss der Gruppe, in diesem Fall der Familie, ist auch in der Genese des Verbrechens ein ganz entscheidender.

Insofern muss ich nur versuchen, das, was man aus der Wissenschaft weiß, aus empirischen Untersuchungen über derartige Verbrechen, was ich natürlich auch aus meiner Erfahrung weiß - ich habe schon über 400 Menschen mit Tötungsdelikten gründlichst untersucht -, in Verbindung zu bringen mit dem, was uns diese Geschichte erzählt. Für mich war es natürlich eine ganz willkommene Abwechslung, weil es etwas völlig Neues ist. Ich glaube auch, dass das ein ganz tolles Projekt ist, weil es die Sprache der jungen Menschen treffen wird und weil es schon eine neue Dimension des Erzählens von Kriminalgeschichten beinhalten wird. Aber für mich war es von meiner eigentlichen Aufgabe her nur das, was ich sonst den ganzen Tag mache.

ORF.at: Es geht in Krimis um Leiden - um Verletzungen, den Tod, die Trauer von Angehörigen. Warum schaut man sich das an?

Haller: Es ist tatsächlich so, dass diese Kombination zwischen psychischer Gestörtheit und menschlicher Not und einem schweren Verbrechen uns fasziniert. Wieso schauen wir spät in der Nacht noch, nach des Tages Müh’, Thriller an? Weshalb sind Kriminalromane die Bestseller schlechthin? Weshalb wird dieser Film mutmaßlich die Massen wieder vor die Fernseher locken? Weil wir, das ist meine These, nicht nur eine interessante Geschichte erzählen, sondern weil Menschen den Wunsch haben, in die Tiefe der eigenen Seele zu blicken.

Jeder Mensch weiß, dass er in sich seine Abgründe hat, verschattete Anteile, die ihm selbst nicht bekannt sind. Keiner von uns kann wirklich garantieren, ob er nicht in einer bestimmten Situation etwas ganz Verrücktes, im wahrsten Sinne des Wortes, was er sich nie zugetraut hätte, was er sich nie vorstellen hätte können, irgendwann einmal verübt. Um diese Seite kennenzulernen, blicken wir auf die Verbrecher, die das möglicherweise ein Stück weit verwirklichen. Meines Erachtens ist es nichts anderes als der Wunsch, in den Spiegel der eigenen seelischen Abgründe zu blicken.

Das Gespräch führte Simon Hadler, ORF.at