„Vielleicht spielt er“
Der Grazer Prozess zur Amokfahrt von Alen R. am 25. Juni 2015 hat die Emotionen vor allem der Geschworenen auf eine harte Probe gestellt. Im Hinblick auf die Tat und darüber, wer sie begangen hat, gab es zum Unterschied von den meisten Strafprozessen keinen Zweifel. Diesmal musste das Gericht aber beurteilen, ob es für die verhandelten 113 einzelnen Taten auch einen Schuldigen gibt.
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Der Gedanke, dass Unrecht gesühnt werden muss, ist dem Strafrecht nicht fremd, im Gegenteil. Nur muss das Strafrecht eines Rechtsstaates so sicher wie möglich sein, dass kein einziger Unschuldiger bestraft wird - sogar um den Preis, dass Schuldige freigesprochen werden, wenn Zweifel bleiben. Aus der Hüfte geschossene Einschätzungen der Boulevardpresse, dass etwa R. bei dem Prozess nur eine „irre Show“ abzog, durfte sich das Gericht nicht erlauben.
Schuldig ist nur, wer Schuld einsehen kann
Die vielzitierte Unschuldsvermutung wird in Medien meist dann angeführt, wenn jemand eine Tat begangen oder auch nicht begangen haben könnte. Das stand bei der Grazer Amokfahrt außer Zweifel. Schon zu Beginn des Prozesses schilderten Zeugen, wie R. „mit vollem Karacho“ auf Menschen zugesteuert sei, sie nach einem „Knall“ mit „verdrehten Knochen“ zurückgelassen habe und außerhalb seines Autos auf Unbeteiligte eingestochen habe.

APA/Erwin Scheriau
Der große Schwurgerichtssaal in Graz
Die Unschuldsvermutung gilt aber nicht nur für Zweifel daran, ob jemand eine Tat begangen hat. Für einen Schuldspruch in einem Prozess braucht es außerdem als zweiten Teil die Sicherheit, dass die Täterin oder der Täter wussten, was sie taten. „Wer zur Zeit der Tat (...) unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, handelt nicht schuldhaft“, legt das österreichische Strafgesetzbuch (StGB) in Paragraf 11 fest.
Warum R. ein „Betroffener“ ist
Die Frage von möglicherweise mangelnder Zurechnungsfähigkeit führt auch dazu, dass R. als „Betroffener“ vor Gericht stand und nicht als Angeklagter. Zum Unterschied vom angloamerikanischen Strafrecht, von dem fast jeder durch TV-Krimiserien einen Hauch Ahnung hat, muss ein Staatsanwalt in Österreich auch genau auf all das schauen, was den Angeklagten entlasten könnte - hier auf eine mögliche „geistige oder seelische Abartigkeit von höherem Grad“ (Paragraf 429 Strafprozessordnung (StPO)).
Über R.s Verfassung wurden insgesamt drei Gutachten angefertigt. Ein Gutachter sah ihn als zurechnungsfähig an, zwei wollten paranoide Schizophrenie zumindest nicht ausschließen. Ein Staatsanwalt kann gar nicht anders als auf eine Anklage verzichten, wenn es „hinreichende Gründe für die Annahme“ einer „geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad“ gibt. Statt anzuklagen, muss ein Staatsanwalt dann eine „Unterbringung in einer Anstalt“ (Paragraf 429 StPO) verlangen. Damit gibt es auch keinen Angeklagten, sondern nur einen „Betroffenen“.
Fluchtroute oder Tötungsabsicht?
Staatsanwalt und Richter widmeten sich in der Verhandlung vor allem bei der Einvernahme von Sachverständigen der Frage, ob R. am 25. Juni 2015 einsehen konnte, dass er mit seiner Amokfahrt Unrecht begeht. Seine Rechtfertigung, dass er sich verfolgt glaubte, wurde dabei auch genau mit technischen Gutachtern besprochen: Warum etwa fuhr er in der Grazer Herrengasse den Gehsteig entlang, wenn er „Verfolgern“ doch auf der Straßenbahnspur schneller entkommen wäre?

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Staatsanwalt Hansjörg Bacher
Vor allem aber wurden die medizinischen Gutachter zu R. befragt. Staatsanwalt Hansjörg Bacher wies etwa darauf hin, dass R. auch in der Strafanstalt Göllersdorf anfangs als „im Tempo unauffällig und wach“ beschrieben worden sei. „Was ist passiert, dass er jetzt so ist?“, wunderte sich der Ankläger, der sich auf das langsame, etwas unkoordinierte Gebaren des Betroffenen bezog. „Ist das ein Krankheitsbild, sind das Nebenwirkungen der Medikamente, oder ist das Show?“, fragte der Staatsanwalt.
Möglicherweise „gewollt“ absent vor Gericht
Psychiater Manfred Walzl - er hielt R. in seinem Gutachten für zurechnungsfähig - hielt im Hinblick auf R.s absent wirkendes Verhalten vor Gericht Nebenwirkungen von Medikamenten für möglich, es sei aber auch nicht auszuschließen, „dass dieses Verhalten von ihm gewollt ist“. Sein Kollege Jürgen Müller, der eines der beiden anderen Gutachten abgegeben hatte, meinte dazu: „Vielleicht spielt er, oder vielleicht ist die akute psychotische Störung unter der Medikation abgeklungen.“
Entscheiden mussten die schwierige Frage, ob R. bei der Tat zurechnungsfähig war, letztlich die Geschworenen. Dass der persönliche Eindruck eines Angeklagten oder Betroffenen bei den Laienrichtern eine Rolle spielt, kann und soll - als Teil der freien Beweiswürdigung - auch gar nicht ausgeschlossen werden. Bemühen mussten sich die Geschworenen gerade deshalb vor allem, dass sie keine emotionale, sondern eine sachliche Entscheidung treffen.
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