Balkan-Länder „als Geisel genommen“
Am Sonntag war es ein halbes Jahr her, dass die EU und die Türkei ihr umstrittenes Flüchtlingsabkommen unter Dach und Fach gebracht haben. Sechs Monate und einen Putschversuch in der Türkei später, hält die Übereinkunft immer noch. Doch auch die Kritik dauert an. Und nicht immer richtet sie sich allein gegen den Deal selbst - sondern nimmt auch die Hintergründe ins Visier.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Als ein „verzweifeltes Outsourcing“ der EU bezeichnet der deutsche Politologe Bodo Weber das Abkommen zwischen der Türkei und der EU. Er arbeitet als Demokratieexperte beim Thinktank Democratization Policy Council (DPC) und hat gerade eine Studie zu dem Thema fertiggestellt. Vergangenen Freitag stellte Weber sie auf Einladung des European Policy Center (EPC) in Brüssel vor. In der Untersuchung analysiert der Politologe nicht nur das Abkommen selbst und dessen Folgen. Er zeichnet auch nach, wie es überhaupt dazu kam.
Eine entscheidende Rolle spricht Weber dabei Österreich zu: Als die Versuche einer Aufteilung der Flüchtlinge in der EU gescheitert seien, sei Österreich - wie auch Schweden und Frankreich - von seiner liberalen Flüchtlingspolitik abgewichen. In der Folge habe die österreichische Regierung die Länder entlang der Balkan-Route „als Geisel genommen“, sagt der Politologe gegenüber ORF.at. Der politische Druck Österreichs auf Länder wie Slowenien oder Mazedonien habe schließlich zur völligen Schließung der Balkan-Route geführt.
Griechenland vor dem Kollaps
Anders als die heimische Regierung sieht Weber darin aber keinen Erfolg: Vielmehr sei mit der Sperrung der Fluchtwege über den Balkan Griechenland vor dem „völligen Chaos und dem Zusammenbruch“ gestanden. Der Kollaps Griechenlands würde zum Kollaps der EU führen, warnte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel damals. „Was, glaube ich, bis heute immer noch richtig ist“, sagt Weber. Unter diesen Voraussetzungen, sei der EU fast nichts anderes übrig geblieben, als die Türkei um Hilfe zu bitten.

EPC
Politologe Weber stellt dem EU-Türkei-Deal kein gutes Zeugnis aus
So sehr sich Merkel in den Monaten zuvor um eine Aufteilung der Flüchtlinge bemüht hatte, so sehr wurde sie nun zu einer der treibenden Kräfte hinter dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Am 18. März wurde das Abkommen schließlich beschlossen. Es sieht vor, dass Flüchtlinge, die über die Ägäis nach Europa kommen, wieder in die Türkei zurückgeschickt werden. Die EU verpflichtete sich im Gegenzug dazu, im Rahmen ihres Resettlement-Programms Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen. Darüber hinaus sicherte die Union der Türkei Hilfszahlungen von insgesamt rund drei Mrd. Euro zu.
„Traurige Ironie“
Neben diesen - direkt mit der Fluchtbewegung in Verbindung stehenden - Vereinbarungen einigten sich die EU und die Türkei aber noch auf weitere Punkte: So sollten türkische Bürger zum einen schnell Visafreiheit für die EU bekommen. Zum anderen versprach die EU, ein weiteres Kapitel in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu öffnen.
Die Flüchtlingsfrage wurde somit an die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei gebunden. Und das wiederum ist für Weber eine direkte Folge der Politik von Österreich und Deutschland. Dabei hätten gerade diese beiden Mitgliedsstaaten jahrelang das EU-Beitrittsgesuch der Türkei blockiert. Darin liege „eine traurige Ironie“, schreibt er in seiner Studie.
Eigentliches Problem ausgeklammert
Für den Politologen ist der Deal mit seiner Verquickung von Beitrittsverhandlungen und Flüchtlingspolitik jedenfalls der falsche Weg. Indem sie die Türkei zum sicheren Staat für Asylsuchende erklärt habe, habe die EU international an Glaubwürdigkeit verloren, sagt Weber.
Innerhalb der EU herrsche zudem keine Einigkeit über den EU-Beitritt der Türkei. Dass die Union Ankara dennoch Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen verspreche, schwäche am Ende die proeuropäischen Kräfte in der Türkei, so Weber. Dazu komme, dass die EU mit dem Deal das Problem nur ausgelagert habe. Die eigentliche Ursache dahinter, nämlich der fehlende Zusammenhalt in der EU selbst, bliebe unberührt.
„Deal funktioniert nicht“
Ganz generell stellt der Politologe fest: „Der Deal funktioniert nicht.“ Das betreffe sowohl die Rückführung in die Türkei als auch die Übernahme von Flüchtlingen durch die EU. Denn eigentlich sei vereinbart, dass wenn sich die Lage in der Ägäis beruhigt habe, das freiwillige Resettlement von rund 150.000 bis 200.000 Syrern aus der Türkei beginne, so Weber. „Aber an das Thema will gar keiner erinnert werden. Im Grunde ist der Deal nur fragil am Leben gehalten, weil Ankara stillhält, obwohl es weiterhin die ganze Arbeit macht.“
In eine ganz ähnliche Kerbe schlägt Lotte Leicht, Direktorin des Brüssel-Büros von Human Right Watch (HRW). Bisher sei nur ein Prozent aller Flüchtlinge per Resettlement in die EU gekommen. Dabei seien solche Programme die einzige Möglichkeit, um „schmutzige Deals“ zu verhindern - und den Verlust „einer ganzen Generation“. HRW war eine von vielen Menschenrechtsorganisationen, die das Abkommen von Beginn an kritisierten.
EU und Türkei verteidigen Abkommen
Aufseiten derer, die das Abkommen ausgehandelt haben, sieht man das freilich anders. Es gebe weit weniger Tote auf der Ägäis-Route und das Geschäftsmodell der Schmuggler sei zerstört worden, sagt Photis Bourlayannis-Tsangaridis, für die Türkei zuständiger Mitarbeiter im Europäischen Auswärtigen Dienst (EEAS). Das EU-Türkei-„Statement“ funktioniere - die Bezeichnung „Deal“ lehnt der EU-Beamte als irreführend ab.

Reuters/Yannis Behrakis
Seit April hat sich die Zahl der Überfahrten über die Ägäis drastisch reduziert
Noch klarer in seinen Worten ist der türkische EU-Botschafter Selim Yenel: „Nein, es gibt keinen Plan B und es wird auch keinen Plan B geben.“ Die Kritik, dass die Türkei für Flüchtlinge nicht sicher sei, perlt an ihm ab. Es wären wohl kaum drei Millionen Menschen in die Türkei geflohen, wenn es dort nicht sicher wäre, so der Botschafter. Sowohl Yenel als auch Bourlayannis-Tsangaridis sprechen von der guten Beziehung, die der Deal zwischen der EU und der Türkei geschaffen habe. „Die EU und die Türkei reden weniger übereinander und mehr miteinander“, sagt der EU-Beamte.
Hinter den eigenen Vorgaben
Allerdings: Beide müssen eingestehen, dass das Abkommen in der Umsetzung in vielen Punkten weit hinter seinen eigenen Vorgaben zurückbleibt. Die Visaliberalisierung für die Türkei ist noch immer nicht in Sicht. 72 Bedingungen wurden der Türkei von der EU auferlegt. Vor allem die Änderung des türkischen Terrorgesetzes scheint spätestens nach dem Putschversuch im Sommer in weite Ferne gerückt.
Auf der anderen Seite wurden seit April laut Bourlayannis-Tsangaridis nur rund 500 Menschen in die Türkei zurückgeschickt. Zugleich nahm die EU im Zuge ihres Resettlement-Programms bisher nicht einmal 1.600 Flüchtlinge aus der Türkei auf. Doch auch die Hilfsgelder aus der EU lassen auf sich warten. Die Überweisungen kämen „langsam und schleppend“, sagt Botschafter Yenel.
650 Millionen seien bisher überwiesen worden, sagt Bourlayannis-Tsangaridis. Aber 600 Millionen sollen noch bis Ende September folgen. Zwar fehlen dann immer noch fast zwei Milliarden, im Vergleich zu den Resettlement-Zahlen lässt sich aber doch sagen: Geld überweisen fällt den meisten EU-Staaten offenbar leichter als Flüchtlinge aufzunehmen.
Martin Steinmüller, ORF.at, aus Brüssel
Links: