Strategiedilemma für Demokratin
Hillary Clinton will erste Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika werden. Trotz schwerer Imageprobleme und jüngster Rückschläge - Beleidigung der Trump-Wähler und Schwächeanfall in der Öffentlichkeit - sehen die meisten Umfragen Clinton weiter vor ihrem republikanischen Konkurrenten Donald Trump.
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Doch der Vorsprung ist mittlerweile teils so gering, dass ausgerechnet eine andere Frau, die grüne Kandidatin Jill Stein, Clintons Einzug ins Weiße Haus verhindern könnte. Stein hat als eine der drei Unabhängigen selbst keinerlei Chancen im Präsidentschaftsrennen.
Entscheidende Prozentpunkte
Doch sie liegt in jüngsten nationalen Umfragen bei bis zu fünf Prozent. Laut der Website RealClearPolitics, die das Gros aller Umfragen zusammenfasst, liegt Clinton derzeit im Schnitt aller Befragungen nur noch 1,1 Prozentpunkte vor Trump. In dieser Umfragenauswertung kommt Stein zugleich auf einen Wert von 3,1 Prozent.
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Stein sprach im Juli zu Sanders-Anhängern - außerhalb der Halle in Philadelphia, in der die Demokraten ihren Parteitag abhielten
Entscheidend ist freilich das Abschneiden in einzelnen Bundesstaaten, da in fast allen das Prinzip „the winner takes it all“ (dem Erstplatzierten fallen alle Wahlmännerstimmen zu, Anm.), gilt. Doch auch hier zeigt sich, dass Stein Clinton möglicherweise entscheidende Stimmen wegnehmen könnte. Im Bundesstaat Maine etwa liegen Clinton und Trump laut einer aktuellen Umfrage gleichauf bei je 37 Prozent - und Stein hält fünf Prozent.
Kopf an Kopf in Florida
Wichtiger aber ist Florida: Dort liegt Clinton laut „New York Times“-Umfrage nur noch mit einem Prozentpunkt voran - Stein hält dort bei zwei Prozent. In Florida gibt es nach Kalifornien (55) und Texas (38) die meisten Wahlmännerstimmen zu gewinnen, nämlich 29 - genau so viele wie im Bundesstaat New York. Während Kalifornien fest in demokratischer und Texas genauso klar republikanisch ist, gilt Florida als einer der „Battleground-States“, in denen der Ausgang offen ist.
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Viele Sanders-Fans hegen tiefes Misstrauen und Abneigung gegen Clinton
Der US-Politologe Daron Shaw, der sich auf Einladung der US-Botschaft am Dienstag in Wien befand, zeigte sich gegenüber ORF.at überzeugt, das Rennen sei viel offener, als viele glaubten. Auch ein Sieg Trumps sei „tatsächlich möglich“, so Shaw, der unter anderem ein Spezialist für Politumfragen ist. Shaw war 2000 und 2004 in den Wahlkämpfen für George W. Bush aktiv und wertet seit Jahren am Wahlabend die Exit-Polls und Auszählungsergebnisse für den rechtskonservativen TV-Sender Fox News aus.
Werben um Elitegegner
Viele Unterstützer von Bernie Sanders, der Clinton im demokratischen Vorwahlrennen unterlag, könnten zu Stein oder - zumindest im Osten der USA - zu dem libertären Kandidaten Gary Johnson wechseln. Denn wie Shaw betont, seien Sanders’ Anhänger besonders antielitär. Und Clinton gilt - auch weil sie seit Jahrzehnten in der US-Politik aktiv ist - als Inbegriff der politischen Elite.
Stein wirbt seit dem Demokraten-Parteitag ganz dezidiert und aktiv um jene Sanders-Unterstützer, die sich mit Clinton zumindest bisher nicht anfreunden konnten, weil sie das politische System - ähnlich wie Rechtskonservative auf der anderen Seite - für „manipuliert“ halten.
Warnung vor Al-Gore-Fehler
Möglichst viele dieser Wähler müsse Clinton für sich gewinnen. Shaw warnt Clinton davor, den Fehler von Al Gore im Jahr 2000 zu wiederholen. Dieser habe im Wahlkampffinale den damaligen grünen Kandidaten Ralph Nader, der ebenfalls in Umfragen bei rund fünf Prozent lag, frontal angegriffen - und, so Shaw, damit dessen Unterstützer erst recht verloren.
Es ist freilich umstritten, ob das den Ausschlag für den letztlich höchstgerichtlich verfügten Sieg von Bush gegenüber Gore gab. Diese Wahl wurde bekanntlich in Florida entschieden. Stein wird laut dem texanischen Politologen auf keinen Fall vorzeitig aus dem Rennen ausscheiden. Erreicht sie US-weit fünf Prozent der Stimmen, würde die Grüne Partei beim nächsten Mal nämlich staatliche Parteienfinanzierung erhalten.
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Nach ihrer Nominierung kehrte Clinton zu Wochenbeginn für einen Wahlkampftauftritt nach Philadelphia zurück.
„Vision fehlt“
Shaw findet, Clinton fehle es an einer „überzeugenden Vision“. Sie beschränke sich darauf, die Obama-Jahre zu loben und mehr oder weniger große Verbesserungen zu versprechen. „Das ist eine recht schwache, allgemein gehaltene Aussage.“ Gerade für die Jungen sei Clinton die Vertreterin einer „Politik von gestern“. Konkrete Vorschläge wie jener, die College-Ausbildung besser finanzierbar zu machen, würden dieses Imageproblem nicht aufwiegen, ist Shaw überzeugt.
„Muss mit aller Kraft mobilisieren“
Ein viel wichtigerer Faktor wird aber wohl die Frage der Mobilisierung sein. „Clinton muss mit aller Kraft mobilisieren“ und steht laut Shaw hier stärker unter Druck als Trump. Die Stimmen der Schwarzen werden nicht das Problem sein, bei ihnen sei die Wahlbeteiligung sehr hoch - höher als bei den Weißen. Clinton brauche aber die Jungen und Hispanics - und gerade diese Gruppen seien am schwierigsten zur Stimmabgabe zu motivieren. Insgesamt rechnet Shaw mit einem weiteren Rückgang der Wahlbeteiligung, da es noch nie in der US-Geschichte so unbeliebte Kandidaten gegeben habe.
Die Wahl zwischen besser und schlechter
Für Shaw läuft letztlich alles auf eines hinaus: Wer glaube, der Zustand im Land habe sich verschlechtert, und eine radikale Lösung sei nötig, der werde Trump wählen. Wer das nicht glaubt, werde Clinton wählen. Clinton habe hier zwei Möglichkeiten: davon überzeugen, dass es mit dem Land aufwärts geht - oder auf den Angstfaktor setzen und Trump als echtes Risiko darstellen. Zuletzt habe sie zweiteren Weg gewählt. Darin sieht Shaw aber das Risiko, dass Clinton damit ihrem Kontrahenten „in die Hände spielt“: „Wenn Trump sich in den TV-Debatten vernünftig und überlegt zeigt, dann wird diese Strategie schwierig.“
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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