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15.000 kamen an einem Wochenende

Die Tragödie mit 71 Toten auf der A4, Bilder eines ertrunkenen syrischen Buben, Chaos auf dem Budapester Bahnhof: Im Herbst 2015 ist Europa vollends im Bann der Flüchtlingsproblematik gestanden. In der Nacht auf den 5. September kam es zur historischen Erklärung von Deutschland und Österreich: „Aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze“ stimmten beide Länder „einer Weiterreise der Flüchtlinge“ zu.

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Tausende Flüchtlinge hatten zuvor täglich die grüne Grenze zwischen Serbien und Ungarn passiert. Ihr Ziel war fast ausnahmslos Deutschland, nachdem es das Dublin-Verfahren, das eine Rückführung in das Ersteinreiseland innerhalb der EU vorsieht, für Syrer ausgesetzt hatte. Doch Ungarn ließ seit Tagen keine Flüchtlinge mehr an Bord der Züge Richtung Österreich - verlor aber zunehmend die Kontrolle über die Lage. Tagelang harrten die Menschen auf dem Bahnhof aus, versuchten, in Züge in Richtung Westen zu gelangen. In Ungarn wollten sie keinesfalls bleiben.

Flüchtlinge am Bahnhof Keleti in Budapest

Reuters/Laszlo Balogh

Chaos in Budapest: Flüchtlinge versuchten, Züge nach Österreich zu besteigen

Als doch endlich Züge abfuhren, hatten diese statt Österreich ein ungarisches Lager als Ziel. Die Flüchtlinge an Bord wurden darüber von den Behörden im Unklaren gelassen, ein Schreckensmoment für die Menschen. Die Bahnfahrt mit ungewolltem Ziel sprach sich herum. Tausende beschlossen daraufhin, ihr Glück zu Fuß zu versuchen. Vom Budapester Ostbahnhof Keleti machten sie sich auf einem „Marsch der Hoffnung“ auf nach Österreich.

Telefondiplomatie quer durch Europa

Am Abend teilte der ungarische Botschafter dem österreichischen Außenministerium offiziell mit, was passiert war. Von da an lief die internationale Krisendiplomatie an: Eine Entscheidung musste her, die Zeit war knapp.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel absolvierte an diesem 4. September ein dichtes Programm, sie besuchte Bayern und Nordrhein-Westfalen, wo die Landespartei den 70. Jahrestag ihrer Gründung feierte. Merkel kam rund eine Stunde zu spät. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte sie aus Luxemburg angerufen, wo er von seinem Amtskollegen Sebastian Kurz (SPÖ) über die Vorgänge auf der ungarischen Autobahn informiert worden war. Tausende Menschen seien umringt von Verkehr Richtung Österreich unterwegs, mit unabschätzbaren Folgen.

Faymann „flehte“ Merkel an

Auch der damalige Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) kontaktierte Merkel. Er warnte vor Eskalation, Panik und möglicher Gewalt. Merkel beschloss zusammen mit Faymann, die Grenze für die Flüchtlinge zu öffnen, ohne Kontrollen und Registrierung. Die deutsche Kanzlerin aber hoffte, den Schritt noch etwas hinauszögern zu können. Ungarns Kanzleiminister Janos Lazar erhöhte aber noch einmal den Druck und setzte ein Ultimatum: Noch in derselben Nacht würden hundert Busse Flüchtlinge zur österreichischen Grenze bringen, sagte Lazar. Ob die Menschen diese dann auch überqueren dürften, liege an Österreich.

Laut einem Artikel der „Zeit“ flehte Faymann Merkel deshalb förmlich an, einer Grenzöffnung sofort zuzustimmen. Sie sagte schließlich zu. Die Außenminister Steinmeier und Kurz sowie der ungarische Minister Peter Szijjarto zogen sich daraufhin in Luxemburg vom Treffen zurück, um gemeinsam eine Erklärung zu formulieren. Der Text sollte die Aufnahme der Flüchtlinge ermöglichen. Kurz nach Mitternacht wurde die Erklärung bekanntgegeben - die Grenzbalken gingen hoch.

ÖBB setzten Sonderzüge ein

Um 3.00 Uhr traf der erste Flüchtlingsbus auf ungarischer Seite ein, die Grenze zu Österreich mussten die Menschen zu Fuß überqueren. Vom Regen durchnässt, müde, aber glücklich verließen sie Ungarn. In Nickelsdorf warteten bereits Helfer mit Decken und Essen sowie Busse und Sonderzüge der ÖBB, die sie nach Wien und dann weiter nach Deutschland brachten.

Flüchtlinge am Bahnhof Nickelsdorf

Reuters/Heinz-Peter Bader

Durchnässt, aber erleichtert: Ankunft in Nickelsdorf

Was als einmalige Aktion in einer Notsituation gedacht war, wiederholte sich. Am ersten Wochenende überquerten laut Innenministerium 15.000 Flüchtlinge die Grenze, von denen 90 einen Asylantrag in Österreich stellten. In den folgenden Tagen erreichten rund 6.000 Menschen täglich Österreich, der Großteil reiste nach Deutschland weiter.

„Das menschliche Gesicht der EU“

Eine Welle von Hilfsbereitschaft und Solidarität ging anschließend durch das Land. Als Dreh- und Angelpunkt fungierte der Wiener Westbahnhof. Hierher wurden die Flüchtlinge gebracht, um in der Folge weiterreisen zu können. Hunderte Freiwillige verteilten Spenden und Hilfsgüter, Dolmetscher informierten, Politiker kamen zu Besuch. Österreich und Deutschland wurden von NGOs und der EU für das vorbildliche Vorgehen gelobt. „Sie zeigen das menschliche Gesicht der EU, jenes, das Flüchtlingen Schutz sichert“, sagte etwa Europas Außenbeauftragte Federica Mogherini.

Flüchtlinge auf der ungarischen M1 Autobahn am Weg nach Österreich

APA/Roland Schlager

5. September 2015: Zu Fuß auf dem Weg nach Österreich

Die Grenzen schließen sich wieder

Das Blatt wendete sich dann aber rasch: Im März 2016 schloss ein Land nach dem anderen die Grenze für Flüchtlinge. Voran ging Ungarn: Zehn Tage, nachdem Österreich seine Grenzbalken gehoben hatte, ist die letzte Lücke im ungarischen Grenzzaun abgeriegelt worden. Eine Gesetzesnovelle trat zudem in Kraft, die illegale Einreise mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. Nunmehr erlaubte Ungarn täglich nur rund 30 Flüchtlingen in speziellen „Transitzonen“ um Asyl anzusuchen, der Großteil der Menschen wurde ins „sichere Drittland“ Serbien zurückgeschoben.

Idomeni als direkte Folge

Die Flüchtlingsroute verlagerte sich daraufhin in Richtung Kroatien und Slowenien. Österreichs Haltung in der Flüchtlingsfrage wurde zeitgleich härter: Auf der Balkan-Konferenz im Februar 2016 waren weder Deutschland noch Griechenland eingeladen. Bei dem Treffen in Wien setzten die Teilnehmer aus Österreich und den Balkan-Staaten jedoch bedeutende Schritte: Tageskontingente wurden eingeführt, bevor die Grenzen Anfang März gänzlich geschlossen wurden. Zehntausende strandeten daraufhin in Griechenland, viele von ihnen im improvisierten Lager Idomeni an der Grenze zu Mazedonien - unter menschenunwürdigen Zuständen.

Hoffen auf die Türkei

Die Ausgangslage war wohl mit dafür verantwortlich, dass sich die EU-Staats- und Regierungschefs im März mit dem damaligen türkischen Premier Ahmet Davutoglu auf einen gemeinsamen Flüchtlingsdeal einigten. Seither wurden auf den griechischen Inseln ankommende Schutzsuchende nach einer Einzelfallprüfung ihrer Asylanträge wieder in die Türkei zurückgeschickt, die EU stellte Ankara im Gegenzug Visafreiheit, eine schnellere EU-Annäherung und drei Milliarden Euro zur Versorgung von Flüchtlingen in Aussicht. Die Ankunftszahlen gingen seither stark zurück.

Österreich reagierte mit „Notstand“

Noch nach einem Jahr harrt die Flüchtlingsproblematik einer dauerhaften Lösung. Der Deal mit der Türkei wackelt gehörig, die Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel spitzen sich täglich zu. Zudem sitzen nach UNO-Angaben aktuell rund zehntausend Menschen auf den Ägäis-Inseln fest, weil sie diese bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens nicht verlassen dürfen.

Rund eine Million Flüchtlinge erreichten bis Ende 2015 Deutschland. 90.000 waren es in Österreich. Die Flüchtlingskrise dominierte und spaltete zusehends die Innenpolitik und die öffentliche Stimmung. Im Jänner beschloss die Regierung eine Höchstzahl für Asylsuchende, mit der die Zahl der Anträge auf 37.500 begrenzt wird. Bis Ende Juli wurden über 24.000 Flüchtlinge zum Asylverfahren zugelassen. Österreich will bei Erreichen dieser Höchstzahl den „Notstand“ erklären und praktisch keine Asylanträge mehr an seiner Grenze annehmen. Der Entwurf dieser Asylnotverordnung soll beim Ministerrat am 6. September in Begutachtung gehen, einen Tag und ein Jahr nach dem „Marsch der Hoffnung“.

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